München in den Siebzigern: "Eine wunderbare, ungezähmte Zeit"

AZ-Leser Wolfgang Baumann erinnert sich an seine Jugend in den 70er Jahren, an seine Band - und das Treffen mit Muhammad Ali.
von  AZ-Leser Wolfgang Baumann
AZ-Leser Wolfgang Baumann als Musiker mit langer Mähne in den 70er Jahren.
AZ-Leser Wolfgang Baumann als Musiker mit langer Mähne in den 70er Jahren.

München - Zutiefst beeindruckt und geprägt haben mich die Olympischen Spiele 1972 in München. Die ganze Welt blickte auf diese unsere Stadt. Heitere, friedliche Spiele in Farben, die vorher noch nie in dieser Form und Weise für Leichtigkeit, ja Unschuld standen.

Ein Olympiastadion als architektonisches Meisterwerk, das seine Zeit überleben sollte. Meine Schwester durfte sogar bei der Eröffnungsfeier mit Schülerinnen und Schülern ins Stadion miteinlaufen. Sagenhaft, die Buben hellblau, die Mädchen in Gelb. Die ganze Stadt war stolz und beseelt. Das tragische Ende ist bekannt.

Mit meinem Geburtstag am 31. Dezember war der Knall ja schon von Anfang an inklusive und das sollte sich in den Siebzigern noch steigern. Da war es angesagt, einen Schlag zu haben, modisch meine ich, ein Beinkleid, das nach unten breiter wurde und länger, viel länger. Im gestyltesten Fall um Längen länger. Das wiederum erforderte entsprechend hohes Schuhwerk, damit man nicht auf die viel zu langen Hosenbeine trat und mehr oder weniger elegant stolperte.

AZ-Leser Wolfgang Baumann als Musiker mit langer Mähne in den 70er Jahren.
AZ-Leser Wolfgang Baumann als Musiker mit langer Mähne in den 70er Jahren.

AZ-Leser Wolfgang Baumann als Musiker mit langer Mähne in den 70er Jahren. Foto: privat

Bei einem Rendezvous im hektisch abgesperrten Jugendzimmer hatte ich die Überlänge meiner Hosenbeine "strumpfsockad" in der aufkeimenden Leidenschaft vergessen, um vor der vermeintlichen Flamme den strauchelnden Flammenwerfer hinzulegen und als Bettvorleger zu landen. Dass meine Eroberung auch noch das Töchterchen meines Französischlehrers war, sollte ich erst bei der Herausgabe der nächsten Schulaufgabe erfahren, die der Professor mit einem staubtrockenen "bei mir gibt's auch 6" auf meinen Platz der Geistesertüchtigung, genannt Schulbank, gleiten ließ.

Zu diesem Zeitpunkt interessierte mich viel, aber nicht die Schule. Eher Musik und Mädchen, sowie Mädchen und Musik. Oder beides. Meine Stamm-Diskothek wurde die "Neue Münze" in der Blutenburgstraße, heute das Kriminaltheater, die wir später auch als Band beglücken sollten. In Zeiten des Glam-Rock war es cool und angesagt, sich auch als Typ rocky-horror-mäßig zu schminken.

Im Eingangsbereich lagen stets Schminkutensilien und drinnen ging dann tuntig die Post ab. Da wurden dann die weltweit ersten Luftgitarren-Meisterschaften abgehalten und keines der Instrumente war je verstimmt. Verstimmt war eher der autoritäre Vater, der das Outfit unerträglich fand ("solange du deine Füße unter meinem Tisch…")

Ich gründete eine Band, und es stand fest wie ein Meilenstein: Ich werde berühmt, komme was wolle. Wir spielten unseren 1. Auftritt auf dem Geburtstag einer Millionärstochter, und die fand mich so süß, dass sie mir unbedingt weitere Plateauschuhe kaufen wollte, was ich nach geringer Gegenwehr auch geschehen ließ. Man konnte mit diesen hohen Teilen erstaunlich gut laufen und die Schritte wurden dadurch irgendwie stelzenläuferartig beachtlich lang.

Und hier im gelben Schlaghosen-Overall mit seiner Band im "Mandys Club" auf der Bühne.
Und hier im gelben Schlaghosen-Overall mit seiner Band im "Mandys Club" auf der Bühne.

Wolfgang Bau im gelben Schlaghosen-Overall mit seiner Band im "Mandys Club" auf der Bühne. Foto: privat

Auf der Bühne sah das damals wirklich cool aus, und so wurde ein Typ auf uns aufmerksam, der uns bald als unser Manager mit weiblichem Chauffeur in Anzug und Piloten-Mütze in einer schweren Jaguar-Limousine von der Schule abholen ließ. So richtig, mit Tür aufhalten, Tür schließen, Mütze auf, losfahren. Leider war das damals noch ein "reines" Buben-Gymnasium, aber das "erhabene" Gefühl und die Lehrerblicke spüre ich noch heute.

Die Gigs, die unser Manager damals für uns besorgte, waren immer öfters in einem Ambiente, das uns fremd war oder das wir noch nicht kannten. Nachdem er uns auch noch Kose-Künstlernamen, wie Angel und Romeo, verleihen wollte, merkten wir, dass der gute Mann scharf auf uns war. Ich war übrigens der Romeo. Mir gefiel dagegen viel besser seine Fahrerin Ruth und ich hielt mich da meiner Veranlagung gehorchend an bewährte Magnetismen und Reflexe.

Im Mandys Club, einer entsprechenden Tanzbar und dem angesagten Cock(!)tail-Treff am Gärtnerplatz, hatten wir immer öfter den Eindruck, er möchte uns dort abfüllen, um uns dann von seinen Neigungen zu überzeugen. Zufällig gab es darüber wohl eine größere Wohnung, in der man dann hätte Halma oder sonst was spielen können. Halma wurde da eher selten gespielt, vermute ich heute.

Auch Musiker wie die von Deep Purple , die zu Studioproduktionen in der Stadt waren, gingen dort aus und ein - und hoch. Einer dieser für uns damals "Großen" fragte mich ganz unkompliziert und freundlich, ob ich Lust hätte, mit ihm nach oben zu gehen. Er war aber nicht böse, blieb freundlichst nett und war plötzlich verschwunden.

Unser Auftritt im Mandys Club war richtig cool, Disco-Kugel, Spiegel, goldene Adonis-Figuren - und wir mittendrin. Es hat wirklich Spaß gemacht, und dabei sollte es auch bleiben. Hotel Mama ermöglichte mir stets in freundschaftlich vertraulichen Gesprächen, das Erlebte zu verarbeiten.

Ein schwerer Autounfall versetzte meiner ambitionierten Karriereplanung allerdings unvermittelt eine Zwangspause aufs Auge. Im wahrsten Sinne des Wortes - ein Brillen-Hämatom, ausgelöst durch den Auffahr-Crash meines Schulspezls, der ungebremst mit 80 Stundenkilometer auf einen parkenden Laster gedonnert war.

Beim Aufprall saß ich hinten unangeschnallt zwischen den beiden Vordersitzen und bin mit der Stirn an den Rückspiegel geknallt. Schutzengel, noch mal Dankeschön! Ein paar Tage später musste ich zur Musterung beim Kreiswehrersatz-amt. Ich erschien dort als Einhorn mit meinen beiden Veilchen, und setzte mich mit Sonnenbrille in den Warteraum. Ein zackiger Bundeswehr-Offizier bluffte mich im Ausbilder-Befehlston an: "Setzen Sie die Sonnenbrille ab, wir sind hier nicht im Urrrrlaub! - Ääh, setzen Sie sie wieder auf."

Schule ging jetzt drei Wochen gar nicht und ich redete mir ein, mit dieser Verletzung nie mehr schultüchtig zu sein. Obwohl mir mein Vater bei bestandenem Abitur einen VW Käfer in Aussicht gestellt hatte, entschloss ich mich, die Schule zu verlassen. Ich wollte etwas Künstlerisches, etwas Kreatives machen, Erotik nicht zwingend unerwünscht oder gar ausgeschlossen.

So begann ich übergangslos in München Giesing als Lichtbildner eine Fotografenlehre. Es sollte ein richtig guter Entschluss sein, denn bis heute ist der Beruf des Fotografen mein Traumberuf geblieben.

Allerdings begab es sich, dass zu dieser Lehrzeit (Lehrjahre sind ja bekanntlich keine Herrenjahre), ein gewisser Muhammad Ali, seines Zeichens Box-Schwergewichts-Weltmeister, damals einen Kampf in der Münchner Olympiahalle angekündigt hatte. Ali war für mich ein Jahrhundert-Ereignis, und er veranstaltete ein öffentliches Training im Circus Krone. Da musste ich hin, auch wenn eigentlich Berufsschule war.

Zwei ganz Große: Muhammad Ali im Mai 1976 bei einem Show-Kampf in München mit Showmaster Rudi Carrell (2006).
Zwei ganz Große: Muhammad Ali im Mai 1976 bei einem Show-Kampf in München mit Showmaster Rudi Carrell (2006).

Zwei ganz Große: Muhammad Ali im Mai 1976 bei einem Show-Kampf in München mit Showmaster Rudi Carrell (2006). Foto: Ullstein

Ali kam mit einem ganzen Bus seines Clans und seiner Entourage und machte seinem Ruf als Großmaul alle Ehre. Gleichzeitig und zufällig (ich glaube nicht an Zufall) wurde von Showmaster Rudi Carrell ein Spiel aufgezeichnet, das Cassius Clay alias Muhammad Ali als Protagonisten unter normalen Familien zum Inhalt hatte. Ali, also im Zirkus Krone, gegen eine alte Oma, die ihn antapste und er, der Schauspiel-Champ, zu Boden glitt. Ein anderer Kandidat hatte das Spiel wohl nicht ganz kapiert und meinte dem gutgelaunten Weltmeister mal eben eine servieren zu können. Die Reaktion war so, dass das Männelchen eine entsprechende Faustantwort bekam. Bei der Fernsehsendung fiel die Bestrafung dem Schnitt zum Opfer.

Obwohl ich ein ganz guter Fotograf war, habe ich sämtliche (alle!) Fotos von ihm total verwackelt, entweder hatte ich was falsch eingestellt, da war noch nix automatisch, die Aufregung machte mich zum Zitterspieler - oder der Champ war wirklich so schnell. Wahrscheinlich kam alles zusammen.

Natürlich kam auch noch raus, dass ich die Berufsschule an der Pranckstraße, gleich daneben, dafür geschwänzt hatte, weil die Schulleitung bei meinem damaligen Chef angerufen hat. Mein Freikaufversuch mit Ali-Fotos war durch meine miesen Foto-Resultate zum Scheitern verurteilt. Ich tröstete mich damit, dass es Dinge und Situationen gibt, die man einfach innerlich festhalten sollte.

Dann kam Nastassja Kinski in unser Leben

Von zu Hause weg war ich endlich mein eigener Herr, ich genoss die Freiheit, ließ mir die Haare so wachsen wie ich wollte, gestaltete meine Freizeit mit Musik und Mädchen oder Mädchen und Musik. Oder beides. Mein damaliger Drummer kam eines Abends mit einer Blume von Schönheit zum Üben. Die bezaubernde Traumfrau hieß Nastassja Kinski und war charismatisch und atemberaubend.

Für einen Sänger ist Atemnot gefährlich. Wir spielten bei diesem Übungstermin quasi um unser Leben. Übung macht den Meister, die Meisterin hörte zu. Kurze Zeit später lief der Tatort "Reifeprüfung" in deutschen Wohnzimmern und der faszinierende Stern wurde ein Star. Mein Schlagzeuger war wieder solo und konnte sich seinen ursprünglichen Aufgaben in der Band widmen. Flammen flammten auf und erloschen und doch brannte in jedem ein Feuer. Nie aber hätte man einen Menschen ob seiner Attraktivität bedrängt. Es galt der positive Respekt.

Was für mich in der Rückschau gravierend anders war, ist der Umstand dieses Respekts. Bei allem Aufbegehren, war der Anstand so anerzogen, dass man ihn eben nie in Frage gestellt hätte. Mein Bedürfnis, Menschen zu grüßen, ist heute noch von dem Reflex "Wald rein-Wald raus"- geprägt. Wald raus wird seltener, weil die Schweiger diese Freundlichkeit nicht lernen. Unsere beiden Söhne aber leben mit dieser Einstellung und das hat sich bewährt. Ich glaube im Nachhinein, die Siebziger waren wilder. Die Achziger kommerzialisierten alles, danach wurde es austauschbar und uferlos.

Die wahren Veränderungengeschahen Schritt für Schritt. Wenn jemand, egal welchen Alters, heute nicht sagen kann "heit bin i gscheider", hat er einen Fehler im System. Ich bereue nichts, aber leid duats ma scho, dass i manchmoi a Depp war.

Was bleibt, ist die ewige Baustelle München. Hinten werd aufgrissen, vorn wieder zuagmacht. Jedem Kabel seine Grube, scho oiwei, um nicht zu sagen immer. Meine Tante Fanny war Fahrkarten-Verkäuferin und Aufsicht im hinteren Wagen der Trambahn. Sie hatte einen erhöhten Tresen im Waggon und der Respekt und die Anerkennung war beim Freigabe-Klang gewiss. Da schwätzte niemand. Heute braucht der Kontrolleur einen Bewacher - und der wieder einen.

Der Ausklang der 70er in München, eine wunderbar aufregende-ungezähmte Zeit.

Dann ernstete der Beginn des Lebens…


Und was haben Sie erlebt? Schreiben Sie an die AZ!

Die AZ wird Sie in diesen Sommertagen unterhalten mit Geschichten aus den Zeiten, in denen München doch noch münchnerischer war als heute. Als Stenze durch die Stadt strawanzten – und Striezis und Schandis aneinandergeraten sind.
Haben Sie selbst auch solche Münchner Gschichten erlebt?
Schreiben Sie sie auf – und schicken sie diese, gern mit Fotos (falls vorhanden) – an leserforum@az-muenchen.de

Oder per Post an:
Abendzeitung
Kennwort: Gschichten
Garmischer Straße 35
81373 München

Die AZ wird ausgewählte Gschichten veröffentlichen.

Lesen Sie hier Teil 1 der AZ-Serie "Münchner Gschichten": "Erst ein Ohnmachts-, dann ein Tobsuchtsanfall"

Lesen Sie hier Teil 2 der AZ-Serie "Münchner Gschichten": "Sie legten uns Achter an, dann ging's in die Löwengrube"

Lesen Sie hier Teil 3 der AZ-Serie "Münchner Gschichten": "Straßenschlägereien, Einzelhaft und ein Wahnsinnsgeschoss"

Lesen Sie hier Teil 4 der AZ-Serie "Münchner Gschichten": "An Zwickl-Fünfer mit de kurzn Kartn"

Lesen Sie hier Teil 5 der AZ-Serie "Münchner Gschichten": Wie Fierek zum Film kam: Mit der Dogge im Commodore

Lesen Sie hier Teil 6 der AZ-Serie "Münchner Gschichten": "Ich war nie ein Striezi oder ein Stenz"

Lesen Sie hier Teil 7 der AZ-Serie "Münchner Gschichten": "Einsatz am Max-II-Denkmal" und "Schlaraffenland im Keller"

Lesen Sie hier Teil 8 der AZ-Serie "Münchner Gschichten": "Küsse hinter der Dult, Tauchkurs im Nordbad"

Lesen Sie hier Teil 9 der AZ-Serie "Münchner Gschichten": "Rainer Weiss - ein Unikum und Urgestein"

Lesen Sie hier Teil 10 der AZ-Serie "Münchner Gschichten": "Wilde Nächte in den 70ern: ’s Nannerl vom Land"

Lesen Sie hier Teil 11 der AZ-Serie "Münchner Gschichten": "Münchner Freiheit, die ich meinte"

Lesen Sie hier Teil 12 der AZ-Serie "Münchner Gschichten": "Schwabinger Krawalle - Und plötzlich eine Heidenangst"

Lesen Sie hier Teil 13 der AZ-Serie "Münchner Gschichten": "Lebhafte Jahre in München - Als die letzten Hüllen fielen"

Lesen Sie hier Teil 14 der AZ-Serie "Münchner Gschichten": "Die 60er und 70er - Alles, was verboten war"

Lesen Sie hier Teil 15 der AZ-Serie "Münchner Gschichten": "Schwabinger Gisela: Warum ist die Laterne krumm?"

Lesen Sie hier Teil 16 der AZ-Serie "Münchner Gschichten": Erotische Poster: Gotteslästerung im Herzen von Schwabing?

Lesen Sie hier Teil 17 der AZ-Serie "Münchner Gschichten": Kreuzstraße - Heimat im damaligen Rotlichtviertel

Lesen Sie hier Teil 18 der AZ-Serie "Münchner Gschichten": Die 50er Jahre: "Damals war man toleranter"

Lesen Sie hier Teil 19 der AZ-Serie "Münchner Gschichten": "Ein Jahr Milchkännchen"

Lesen Sie hier Teil 20 der AZ-Serie "Münchner Gschichten": Die 60er: "Wie anders doch die Wiesn damals war!"

Lesen SIe hier Teil 21 der AZ-Serie "Münchner Gschichten": Haidhausen in den 70ern - "Ein Viertel mit Schwung"

Lesen Sie hier Teil 22 der AZ-Serie "Münchner Gschichten": Bewegte Jugend - "Mutproben im FKK-Bereich"

Lesen Sie hier Teil 23 der AZ-Serie "Münchner Gschichten": "In Schwabing war jeder Tag ein Erlebnis"

Lesen Sie hier Teil 24 der AZ-Serie "Münchner Gschichten": "Rainer und der Anruf aus der Badewanne"

Lesen Sie hier Teil 25 der AZ-Serie "Münchner Gschichten": "Schräge Typen, fiese Tricks und krude Erlebnisse"

Lesen Sie hier Teil 25 der AZ-Serie "Münchner Gschichten": "Nur 100 Meter Fahrprüfung"

Lesen Sie hier Teil 26 der AZ-Serie "Münchner Gschichten": "Fahrt im grünen Adler durchs zerbombte München"

Lesen Sie hier Teil 27 der AZ-Serie "Münchner Gschichten": "Nie ohne unsere Bretter"

Lesen Sie hier Teil 28 der AZ-Serie "Münchner Gschichten": "Adria" an der Leopoldstraße - Das Ende einer Institution

Lesen Sie hier Teil 29 der AZ-Serie "Münchner Gschichten": "Aufgspielt im Wiesn-Festzelt"

Lesen Sie hier Teil 30 der AZ-Serie "Münchner Gschichten": "Kneipen-Tour durchs Schwabing der 80er"

merken
Nicht mehr merken
X

Sie haben den Inhalt der Merkliste hinzugefügt.