AZ-Serie "Münchner Gschichten": Schwabinger Krawalle: Und plötzlich eine Heidenangst

"Die laue Luft schien in Bewegung zu geraten, es juckte förmlich auf der Haut": Wie AZ-Leserin Ilka Franz die Schwabinger Krawalle erlebt hat, als sie 19 war.
Von AZ-Leserin Ilka Franz |
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Münchner Gschichten
dpa 4 Münchner Gschichten
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Rudi Dix/Stadtarchiv 4 Münchner Gschichten
Eine Frau kümmert sich um einen verletzten Mann: Bis zu 40  000 Protestler zogen damals durch Schwabing.
4 Eine Frau kümmert sich um einen verletzten Mann: Bis zu 40 000 Protestler zogen damals durch Schwabing.
Mit Gummiknüppeln gegen randalierende Jugendliche: Polizisten bei einem Einsatz vor der damaligen "Gaststätte Leopold".
4 Mit Gummiknüppeln gegen randalierende Jugendliche: Polizisten bei einem Einsatz vor der damaligen "Gaststätte Leopold".

München - Nachdem wir unsere Miracoli verschlungen hatten, wollten wir uns noch einen Kaffee auf der Leopoldstraße gönnen. Einen solch lauen Abend konnte man schließlich nicht zu Hause verbringen. Wir flanierten die Leopoldstraße rauf und runter, trafen mal hier jemanden und sahen mal da jemanden. Die Stühle vor den Cafés waren alle besetzt, es wurde gelacht und gescherzt, und hin und wieder hörte man Musik.

Auch zu fortgeschrittener Stunde schlenderten die Leute noch zwischen dem Siegestor und der Münchner Freiheit auf und ab oder "hingen in den Straßencafés ab", wie man heute sagen würde.

Es schien, als läge etwas in der Luft, das einen immer wieder auf eine neue Runde schickte. Eine leichte Erregung machte sich bemerkbar je später es wurde, die laue Luft schien in Bewegung zu geraten, es juckte förmlich auf der Haut. Irgendetwas ging vor sich – man konnte es ahnen, aber man konnte es nicht erkennen. Etwas Ungewöhnliches, etwas, was man noch nie erlebt hatte.

Alle spürten es, doch niemand wusste Genaues, niemand wusste, woher es kam, aber jeder spürte, dass etwas kam. So sehr wir uns auch bemühten, es gelang uns nicht, die Ursache dieser verführerischen Schwingung herauszufinden. Es tat weh, das Besondere nicht fassen zu können.

Eine Frau kümmert sich um einen verletzten Mann: Bis zu 40  000 Protestler zogen damals durch Schwabing.
Eine Frau kümmert sich um einen verletzten Mann: Bis zu 40 000 Protestler zogen damals durch Schwabing.

Eine Frau kümmert sich um einen verletzten Mann: Bis zu 40.000 Protestler zogen damals durch Schwabing. Foto: Rudi Dix/Stadtarchiv

Wir ließen uns vom Strom der Leiber mitreißen

Am nächsten Morgen erkundigten sich die Kollegen, ob ich etwas von den Unruhen mitbekommen hätte, die es während der Nacht in Schwabing gegeben habe. Aha, also doch, dachte ich. Es hatte also Unruhen gegeben! Das war es gewesen, was uns wellenförmig über die Haut gelaufen war.

Offenbar waren wir immer an der falschen Stelle, dass wir davon nichts mitbekamen. Als Helga und Monika nach Hause kamen, schlangen wir unser Abendessen hinunter und machten uns auf den Weg. Falls es wieder diese Unruhen geben sollte, wollten wir unbedingt dabei sein.

Als wir in die Leopoldstraße einbogen, tummelte sich dort bereits eine Menschenmenge. Die Unruhen waren in vollem Gange. Es brodelte in der breiten Straße, ebenso in den kleinen Seitenstraßen, in die sich die Menge wellenartig flüchtete und aus denen sie wieder herausquoll.

Im Schutze der Masse wogten wir parallel zum Geschehen, wogten mit ihr in Hinterhöfe und von dort wieder zurück. Und dann sahen wir endlich auch, wer uns in Bewegung hielt: Berittene Polizisten waren es, die versuchten, die Leute auseinanderzutreiben. Es sah gewaltig aus! Wo sie und ihre schnaubenden Tiere auftauchten, stoben die Leute kreischend auseinander. Das Gedränge wurde immer ärger. Dass es hier nur um störende nächtliche Musik und unzufriedene Studenten ging, wie wir gehört hatten, glaubten wir inzwischen nicht mehr. Wir ließen uns herumschieben, vom Strom der Leiber mitreißen und herumstoßen und fühlten uns wohl dabei. Ludwig hatte Recht gehabt. Hier war richtig was los!

Doch dann steigerte sich unvermittelt die Aufregung, das Gedränge wurde bedrohlich, wir wurden voneinander getrennt und verloren uns aus den Augen. Die plötzlich empfundene Anonymität in der Masse und das Gefühl, dass es nun doch gefährlich werden könnte, lösten eine Heidenangst in mir aus. Mit aller Kraft arbeitete ich mich aus dem Pulk heraus und rannte nach Hause.

Mit Gummiknüppeln gegen randalierende Jugendliche: Polizisten bei einem Einsatz vor der damaligen "Gaststätte Leopold".
Mit Gummiknüppeln gegen randalierende Jugendliche: Polizisten bei einem Einsatz vor der damaligen "Gaststätte Leopold".

Mit Gummiknüppeln gegen randalierende Jugendliche: Polizisten bei einem Einsatz vor der damaligen "Gaststätte Leopold". Foto: dpa

Mein Vorhaben, mich am nächsten Abend mit meinen Freundinnen trotzdem wieder ins Getümmel zu begeben, fiel ins Wasser, denn als ich vom Büro nach Hause kam, erwartete mich mein Vormund vor der Haustür. Als er, der bis dahin wie jeder andere jenseits der Weißwurstgrenze, Schwabing für einen stinknormalen Stadtteil gehalten hatte, im Fernsehen erfuhr, in welcher Gefahr sich sein Mündel befand, hatte er sich ins Auto geschwungen, um es heldenhaft vor dem Verderben zu retten.

Mein Abtransport aus Schwabing ging zwar auch mit Krawall und Aufruhr vonstatten, allerdings nicht per Pferd, sondern ganz banal per VW-Käfer, was ich sehr bedauerte. Aber 1962 hatte man ein gesetzliches Mitspracherecht über die eigene Person erst nach Vollendung des 21. Lebensjahres.


AZ-Leserin Ilka Franz in den 60ern. Foto: privat

Dass es sich bei den Unruhen um die "Schwabinger Krawalle" gehandelt hatte, habe ich erst mitbekommen, als ich wieder bei meinem Onkel unter Kuratel stand. Bei einer entfernten Verwandten in Augsburg hatte er mich in Verwahrung gegeben, damit ich die vertraglich vereinbarten Pflichten bei meinem Münchner Arbeitgeber per täglicher Bahnfahrt Augsburg-München-Augsburg bis zum Vertragsende erfüllen konnte. Wohnung und Arbeitsvertrag kündigte mein Vormund zum nächstmöglichen Termin. Widerspruch und intensives Aufbegehren hatten so wenig Erfolg wie die Schwabinger Krawalle.

Jahre später überkam mich wieder Sehnsucht nach München. Ich sah mich nach einer Wohnung in Schwabing um. Doch das Schwabing, in das ich mich einst verliebt hatte, fand ich nicht wieder. Die Luft roch nicht anders als in den übrigen Vierteln der Stadt, ebenso wie in anderen Großstädten Deutschlands auch. Auch die Stimmung auf der abendlichen Leopoldstraße war nicht mehr die, wegen der wir den Weg ins Bett immer erst spät in der Nacht gefunden hatten, auch wenn die Mal- und Bastelkünstler weiterhin auf den Gehsteigen ihre Werke feilboten und man Musik an jeder Ecke hören konnte. Das Leben wirkte so alltäglich wie überall. Und dennoch, irgendetwas zog mich auch jetzt wieder in den Bann. Auch wenn Schwabing nicht mehr Schwabing war, ich verliebte mich neu – und dieses Mal in die ganze Stadt.

Wenig später übersiedelte ich wieder nach München. Etwas musste doch dran sein an der Bezeichnung Weltstadt mit Herz, denn ich habe diese Liebe nie bereut, sonst würde ich nicht heute noch in München wohnen.


Und was haben Sie erlebt? Schreiben Sie an die AZ!

Die AZ wird Sie in diesen Sommertagen unterhalten mit Geschichten aus den Zeiten, in denen München doch noch münchnerischer war als heute. Als Stenze durch die Stadt strawanzten – und Striezis und Schandis aneinandergeraten sind.
Haben Sie selbst auch solche Münchner Gschichten erlebt? Schreiben Sie sie auf – und schicken sie, gern mit Fotos (falls vorhanden) – an leserforum@az-muenchen.de

Oder per Post an:
Abendzeitung
Kennwort: Gschichten
Garmischer Straße 35
81373 München

Die AZ wird ausgewählte Gschichten veröffentlichen.

Lesen Sie hier Teil 1 der AZ-Serie "Münchner Gschichten": "Erst ein Ohnmachts-, dann ein Tobsuchtsanfall"

Lesen Sie hier Teil 2 der AZ-Serie "Münchner Gschichten": "Sie legten uns Achter an, dann ging's in die Löwengrube"

Lesen Sie hier Teil 3 der AZ-Serie "Münchner Gschichten": "Straßenschlägereien, Einzelhaft und ein Wahnsinnsgeschoss"

Lesen Sie hier Teil 4 der AZ-Serie "Münchner Gschichten": "An Zwickl-Fünfer mit de kurzn Kartn"

Lesen Sie hier Teil 5 der AZ-Serie "Münchner Gschichten": Wie Fierek zum Film kam: Mit der Dogge im Commodore

Lesen Sie hier Teil 6 der AZ-Serie "Münchner Gschichten": "Ich war nie ein Striezi oder ein Stenz"

Lesen Sie hier Teil 7 der AZ-Serie "Münchner Gschichten": "Einsatz am Max-II-Denkmal" und "Schlaraffenland im Keller"

Lesen Sie hier Teil 8 der AZ-Serie "Münchner Gschichten": "Küsse hinter der Dult, Tauchkurs im Nordbad"

Lesen Sie hier Teil 9 der AZ-Serie "Münchner Gschichten": "Rainer Weiss - ein Unikum und Urgestein"

Lesen Sie hier Teil 10 der AZ-Serie "Münchner Gschichten": "Wilde Nächte in den 70ern: ’s Nannerl vom Land"

Lesen Sie hier Teil 11 der AZ-Serie "Münchner Gschichten": "Münchner Freiheit, die ich meinte"

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