Kreuzstraße: Heimat im damaligen Rotlichtviertel

Wäre ich ein Geschichtsforscher, müsste ich mit der Beschreibung "meiner" Straße früh beginnen. Sehr früh. So ungefähr um das Jahr 1250. Das mache ich natürlich nicht, doch einen kleinen Geschichtsausschnitt, ab 1962, kann ich beschreiben, denn seit diesem Jahr ist sie mir sehr vertraut, sie ist eben meine Heimat.
Also, wo Heimat ist, kann ich damit sehr genau sagen, das ist für mich München im Allgemeinen und die Kreuzstraße im Speziellen. Immer, wenn ich am Sendlinger-Tor-Platz aus dem Schacht der U-Bahn an die Erdoberfläche steige, empfinde ich dieses warme Geborgenheitsgefühl, das man wohl nur auf Heimatboden bemerkt.
Die Damen gingen tagein, tagaus die Bordsteinkante entlang
Mir geht es jedenfalls sehr gut, wenn ich durch das Sendlinger Tor gehe und links in die Kreuzstraße einschwenke. Eine kurze, völlig unspektakuläre Straße liegt dann vor mir. Parallel zur Sendlinger Straße, in der das Leben tobt und die shoppingwütige Klientel von Kleiderladen zu Schuhgeschäft, von Asiaküche zu Bistro und dann zum Nervenarzt hetzt und dabei sehr schnell sein muss, weil die Läden schneller die Besitzer und Branche wechseln, als die Umtauschfrist für eine Jeans ist.
Nein, nein, viel gemächlicher geht es in der Kreuzstraße zu. Schon immer war das so – fast immer. Als ich mit meinen Eltern 1962 in die Wohnung an der Ecke zur Josephspitalstraße einzog – meine Mutter hatte das eingefädelt und den damals noch knappen Wohnungsmietmarkt monatelang durchforstet –, befand sich hier ein stark frequentiertes Rotlichtviertel. Die Damen gingen tagein und tagaus handtaschenschwingend die Bordsteinkante entlang, Kunden anlockend. Unsere Aussicht beschränkte sich im Großen und Ganzen auf die einschlägigen Etablissements und deren Rückseiten sowie auf einen großen Parkplatz, direkt unter uns im Hof.
Das konnte uns aber den Spaß an der neuen Wohnung nicht verderben, schließlich hatten wir bis dahin in der Sendlinger Straße im vierten Stock des sogenannten Singlspielerhauses als Untermieter nur zwei einfache Zimmer bewohnt – Kaltwasser, keine Heizung, Gemeinschaftstoilette am Gang.
Die übrigen 15 Zimmer, Wohnfläche insgesamt zirka 200 Quadratmeter, waren Behausung für etwa 25 Personen. Die Wohnungsnot war groß.
Und dann plötzlich: Kreuzstraße, Zentralheizung, Warmwasser fließend, Bad mit Fenster, eigener Tiefgaragenplatz für den VW-Käfer. Ein Paradies. Die Miete betrug 300 Mark, astronomisch hoch für damalige Verhältnisse, außerdem musste man dem Hauseigentümer einen sogenannten Baukostenzuschuss in nicht unbeträchtlicher Höhe zahlen. Das Wirtschaftswunder war im vollen Gange.
Ein eigenes Zimmer war für mich nicht vorgesehen, doch durch geschickte Organisation spielte es sich so ein, dass meine Eltern – sie waren beide Nachtarbeiter – die Wohnung tagsüber zur Verfügung hatten und ich, nachdem ich eine Lehre begonnen hatte, erst am Abend heimkam und die Wohnung nebst Dobermann-Hund quasi alleine genießen durfte.
In der Kreuzkirche soll schon Napoleon übernachtet haben
Andere Mitbewohner im Haus waren damals die Christine Schuberth (die als Mutzenbacherin aus frivolen Filmen bekannt war), die ich manchmal zur Mittagsstunde – sie pflegte lang zu schlafen – mit Leopardenmantel und bestimmt nichts darunter ihr Frühstück holen sah, zeitweise auch der schöne Helmut Berger – mit häufig wechselnden Partnerinnen und weißem Porsche-Cabrio – sowie andere Paradiesvögel der damaligen Szene.
Zentrum der Kreuzstraße ist deren Namensgeberin, die Kreuzkirche, erbaut – "so nebenbei" – vom Dombaumeister Jörg von Halspach, genannt Jörg Ganghofer, der als Beruf stets bescheiden "Maurer" angab. Napoleon soll in der Kirche schon mit seinen Truppen übernachtet haben.
Ein geheimnisvoller Durchgang führt von der Kreuzstraße in die Sendlinger Straße, genau da, wo vor vielen Jahren die Gaststätte "Leistbräu" war. Benützt man den Durchgang, bekommt man einen Eindruck von Münchner Hinterhöfen, wie sie früher gebaut wurden, zu einer Zeit, in der es noch keine Verschönerungsaktion "Grün in alle Höfe" gab. Dunkel und ein bisschen armselig waren sie.

Zum Schluss noch ein Gedanke an Karl Valentin
Ich wohne schon lange nicht mehr in dieser schönen Straße, sondern nun im Südwesten der Stadt. Doch dank der U-Bahn, komme ich blitzschnell in meine Heimat. Ich bin beruflich an die Innenstadt gebunden, und so habe ich fast täglich die Freude, dorthin unterwegs sein zu dürfen.
Ich genieße das regelrecht und schließe mit einem Wort Valentins: "Mir dean nur die Leit leid, de ned in München wohnen können".
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