AZ-Serie "Münchner Gschichten" Teil 19: Ein Jahr Milchkännchen

Das Büro
Immer, wenn ich die drei Monate in den Semesterferien in einer Versicherung arbeitete, zeigte es sich sehr schnell, dass ich mich absolut nicht dafür eignete. Ich musste irgendwelche Prozente ausrechnen – natürlich ohne Computer – und ich verstand es, in den drei Monaten, die Kartei so durcheinander zu bringen, dass man hinterher jedes Mal einige Zeit brauchte, um wieder Ordnung zu schaffen.
Mein unmittelbarer Vorgesetzter war ein begeisterter Redner und da blieb es nicht aus, dass er sich des Öfteren auf seinen Schreibtisch stellte um mir einen mitreißenden Vortrag über Sozialismus, Kommunismus und Kapitalismus zu halten, oder die Vorzüge des Buddhismus zu preisen.
Da er sehr groß war, passierte es ihm eines Tages, als er eine gute Formulierung mit kräftigen Armbewegungen unterstrich, dass die "heilige" Bürolampe zu Bruch ging, und wir waren von Stund an ohne Licht. Ernüchtert kletterte er vom Schreibtisch, sammelte alle Scherben ein, legte sie säuberlich in eine Bürohülle und schob diese in die hinterste Ecke unter den Schreibtisch – da könnten sie heute noch liegen.
Kurz darauf ging er für längere Zeit auf Dienstreise. Es wurde ziemlich langweilig und ich rechnete in Ruhe alles falsch aus. Meine damaligen Kollegen und Kolleginnen waren alle sehr nett und so verging die Zeit als Büroangestellte wie immer im Fluge.
Die Garderobe
Die kurze Zeit, in der ich als Garderobiere arbeitete, war gut gewählt, da es in den Wintermonaten war. Von Konzertgarderoben oder Theatergarderoben her wusste ich – oder besser gesagt: beobachtete ich –, dass die Damen dort zum Zeitvertreib immer strickten. Aus der Strickerei wurde für mich aber nicht viel, denn mein Tätigkeitsbereich war in unmittelbarer Nähe der Kapelle und es war für mich viel interessanter, mit den dortigen Mitarbeitern zu plaudern und zuzuhören, als zu stricken.
Ich machte gutes Trinkgeld – büßte es aber restlos wieder ein
Meine Einnahmen waren nicht schlecht und ich machte Abend für Abend gute Trinkgelder. Leider büßte ich sie jedes Mal restlos ein, da meine Hauptkasse nie stimmte. Hätte ich doch lieber gestrickt, dann wären meiner Aufmerksamkeit nicht so viele Mäntel durch die Lappen gegangen!
Eines Tages hatte ich genug von dieser Rechnerei und gab die Stellung auf.
Die Manufaktur
Ein festes Arbeitsverhältnis bekam ich in einer Porzellanmanufaktur für Nymphenburger Porzellan. Für mindestens ein Jahr goss ich hübsche Aschenbecher, Milchkännchen und Ähnliches, war sogar Gewerkschaftsmitglied und stritt mich gemeinsam mit der Belegschaft um einige Pfennige mehr Lohn.
Ansonsten nahm man mich anscheinend nicht so besonders ernst. Mein täglicher Arbeitsbeginn war um 7 Uhr morgens. Da ich schon immer Schwierigkeiten hatte mit dem frühen Aufstehen, blieb es nicht aus, dass ich fast jeden Tag zu spät kam und mich auf Schleichwegen zu meinem Arbeitsplatz begab.
Ich kletterte über eine Mauer oder schlüpfte durch den Zaun hintenherum. Mein Tag begann dann fast immer erst um 7.30 Uhr. Es gab ja auch, Gottlob, noch keine Stempeluhr, und eigentlich wussten es alle bis zum Werksmeister, der auf seiner Morgenrunde unseren Raum als letzten betrat.
Da ich aber immerhin im Akkord zu arbeiten hatte, blieb ich halt am Nachmittag länger, so konnte ich mein Defizit immer ausgleichen. Heute nennt man das gleitende Arbeitszeit.
Der Antiquitätenladen
Die Tätigkeit in dem Antiquitätengeschäft war sehr vielseitiger. Der Laden war in einem vornehmen Geschäftsviertel und ich musste die schönen Meissener Porzellanfiguren, Teller und Vasen pflegen. Ich durfte aber auch verkaufen und die Schaufenster dekorieren.
Da hing sie nun, zwischen zerbrochenen Tellern und Figuren
Eines Tages meinte die Chefin, ich solle zwei große Vasen vom oberen Schaufenster aus der Vitrine holen – aber aus irgendeinem Grund übertrug ich diese heikle Aufgabe unserer Buchhalterin. Ein bisschen widerwillig stieg sie auf die Leiter und dann passierte es: Sie stürzte mitsamt den heiligen Vasen, der Glasplatte und allem Drum und Dran mit riesigem Gepolter ins Schaufenster.
Da hing sie nun, zwischen zerbrochenen Tellern, Kannen, Figuren, war starr vor Schreck und ich konnte nicht anders: Ich musste erstmal fürchterlich lachen, denn es sah wirklich aus wie eben der Elefant im Porzellenladen. Gott sei Dank hatte sie sich wie durch ein Wunder nicht verletzt, sondern erlitt nur einen Schock.
Meine Aufgabe war es anschließend, die Unglücksbotschaft telefonisch der Chefin mitzuteilen. Die erwies sich in diesem Katastrophenfall als sehr großzügig, und ich nehme an, sie regelte den Schaden mit der Versicherung. Die Buchhalterin war nur mehr kurze Zeit bei uns – sie konnte den Schock einfach nicht überwinden.
Ich war nach dem Unfall stundenlang damit beschäftigt, die Scherben zu beseitigen und das Schaufenster neu zu gestalten. Außerdem machte mir die Chefin den Vorschlag, ob ich vielleicht nicht auch die Buchhaltung übernehmen wolle – aber mein gestörtes Verhältnis zu Zahlen ließ mich diesen Gedanken entsetzt zurückweisen. Alles, was ich von damals behielt, ist meine Vorliebe zu gutem Porzellan.
Zwischen all meinen Versuchen, Geld zu verdienen, musste ich noch meine Studien betreiben und meine Instrumente üben. Trotzdem bleib mir noch genug Zeit, meine diversen Ideen auszuleben. Es vollzog sich immer wellenweise und voller Begeisterung: Es gab die Strickwelle, die Nähwelle, die Bastelwelle, wobei ich all meine näheren Bekannten und Verwandten mit total unbrauchbaren Gegenständen zu den einzelnen Festen beglückte.
Und was haben Sie erlebt? Schreiben Sie an die AZ!
Die AZ wird Sie in diesen Sommertagen unterhalten mit Geschichten aus den Zeiten, in denen München doch noch münchnerischer war als heute. Als Stenze durch die Stadt strawanzten – und Striezis und Schandis aneinandergeraten sind.
Haben Sie selbst auch solche Münchner Gschichten erlebt? Schreiben Sie sie auf – und schicken sie, gern mit Fotos (falls vorhanden) – an leserforum@az-muenchen.de
Oder per Post an:
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Kennwort: Gschichten
Garmischer Straße 35
81373 München
Die AZ wird ausgewählte Gschichten veröffentlichen.
Lesen Sie hier Teil 4 der AZ-Serie "Münchner Gschichten": "An Zwickl-Fünfer mit de kurzn Kartn"
Lesen Sie hier Teil 6 der AZ-Serie "Münchner Gschichten": "Ich war nie ein Striezi oder ein Stenz"
Lesen Sie hier Teil 9 der AZ-Serie "Münchner Gschichten": "Rainer Weiss - ein Unikum und Urgestein"
Lesen Sie hier Teil 11 der AZ-Serie "Münchner Gschichten": "Münchner Freiheit, die ich meinte"