"Immer wieder rechtspopulistische Ausfälle": Scharfe Kritik nach 100 Tagen Bayern-Koalition

Es liegen turbulente Monate hinter der bayerischen Staatsregierung. In der AZ reflektieren die Bayern-Koalition, SPD, Grüne und Politik-Experten über die letzten hundert Tage.
von  Maja Aralica
Gute Miene zum bösen Spiel? Zwischen CSU-Boss Markus Söder und Freie-Wähler-Chef Hubert Aiwanger läuft es nicht immer wirklich harmonisch.
Gute Miene zum bösen Spiel? Zwischen CSU-Boss Markus Söder und Freie-Wähler-Chef Hubert Aiwanger läuft es nicht immer wirklich harmonisch. © IMAGO / Sven Simon

Bauerndemos, Unstimmigkeiten in Sachen Religionsunterricht und Sticheleien zwischen Koalitionspartnern – es liegen 100 turbulente Tage hinter der bayerischen Landesregierung. In der Abendzeitung reflektieren Mitglieder des Landtags und Politik-Experten über das knappe Vierteljahr seit Regierungsantritt der Spezi-Koalition. 

Florian Streibl (Freie Wähler) über Stimmung im Landtag: "Ausgezeichnet"

Florian Streibl, Fraktionsvorsitzender der Freien Wähler beschreibt die Stimmung im Landtag in den ersten 100 Tagen als "ausgezeichnet". In der Abendzeitung sagt er: "Alle wichtigen Akteure kennen sich aus der ersten Bayernkoalition und wissen das konstruktive Miteinander auf Arbeitsebene zu schätzen.“ Auch sein CSU Kollege, Klaus Holetschek zeigt sich in der AZ positiv gestimmt: "Ich spüre in meiner Fraktion nach wie vor eine große Aufbruchsstimmung, die Freude, gestalten und anzupacken. Wir merken diesen Schwung mit 29 neuen Abgeordneten ganz besonders deutlich."

Da ist das Ding: Klaus Holetschek (vorn, l.-r.), Markus Söder, Hubert Aiwanger und Florian Streibl mit dem Koalitionsvertrag.
Da ist das Ding: Klaus Holetschek (vorn, l.-r.), Markus Söder, Hubert Aiwanger und Florian Streibl mit dem Koalitionsvertrag. © Peter Kneffel/dpa

Politikexperten über die Bayern-Koalition aus CSU und Freie Wähler: "Diffus und kontrovers"

Etwas anders sehen das jedoch Politikexperten. So sagt Werner Weidenfeld, Leiter des Centrums für angewandte Politikforschung in der Abendzeitung: "Die Stimmung ist diffus, kontrovers – ohne Elemente eines zuversichtlichen Aufbruchs." Auch Martin Gross, Politikwissenschaftler an der LMU München bezeichnet die Stimmung als "angespannt". "Sowohl zwischen den beiden Koalitionspartnern als auch zwischen allen Parteien und der mit deutlich mehr und deutlich extremeren vertretenen Abgeordneten der AfD", so Gross in der AZ.

Florian von Brunn (SPD) in der AZ: "Das ist eine Knatsch-Koalition ohne Kompass"

Auch Florian von Brunn, der Fraktionsvorsitzende der SPD zeigt sich wenig überzeugt von der vermeintlich guten Stimmung in der Spezi-Koalition: "CSU und Freie Wähler streiten seit dem ersten Tag an – wie Hund und Katz." Er wirft der Koalition in der AZ vor, weder ein Konzept noch eine Vision für Bayern zu haben. "Das ist eine Knatsch-Koalition ohne Kompass", so von Brunn. Katharina Schulze, Fraktionsvorsitzende der Grünen ist einer ähnlichen Ansicht. "Wir haben es hier mit einer Kraftlos-Koalition zu tun, die frischen Ideen und Innovationen kaum Raum einräumt", sagt sie in der AZ.

Florian von Brunn, SPD-Fraktionsvorsitzender im bayerischen Landtag.
Florian von Brunn, SPD-Fraktionsvorsitzender im bayerischen Landtag. © Daniel Karmann/dpa

Florian von Brunn über Hubert Aiwanger: "Er macht seine Arbeit als Wirtschaftsminister nicht"

Die letzten 100 Tage waren im Landtag Großteils von Konflikten geprägt. Laut Politikwissenschaftler Gross waren es "vor allem die persönlichen Animositäten zwischen Söder und der CSU auf der einen Seite und Aiwanger auf der anderen Seite". Besonders mit Hinblick auf die Frage, "wie viel der Wirtschaftsminister arbeiten und ob er immer die richtigen Prioritäten bei seiner Auswahl der öffentlichen Auftritte setzen würde."

Auch Florian von Brunn sagt in der AZ über die Konflikte im Landtag: "Es sind viele. Aber im Mittelpunkt stehen immer wieder die rechtspopulistischen Ausfälle von Hubert Aiwanger. Er macht seine Arbeit als Wirtschaftsminister nicht." Von Brunn wirft Aiwanger vor, Bauerndemos zu bevorzugen und im Fachgebiet der Landwirtschaftsministerin Michaela Kaniber "wildern". Das wurde zuletzt auch von der CSU häufig kritisiert.

Florian Streibl in der AZ: "Kleinere Hakeleien gibt es in jeder Zweckehe"

Florian Streibl sieht das Ganze etwas entspannter: "Kleinere Hakeleien gibt es in jeder Zweckehe – dabei bleibt es dann allerdings auch". Trotzdem nutzt Streibl in der Abendzeitung die Gelegenheit, um darauf hinzuweisen, dass die Initative für den Führerscheinerwerb für unter Achtzehnjährige am Land von den Freien Wählern kam.

"Wenn die CSU dies dann Monate später als eigene Idee zu verkaufen sucht, erlaube ich mir, in aller Höflichkeit auf unsere Urheberschaft hinzuweisen", sagt Streibl in der AZ. Er fügt hinzu: "Das sind jedoch Kleinigkeiten, die auf Sachebene keine Rolle spielen und sich deshalb auch nicht auf die Regierungsarbeit auswirken."

Klaus Holetschek (CSU) stichelt gegen Aiwanger: "Da muss deutlich mehr kommen"

Das Verhältnis zwischen Markus Söder und Hubert Aiwanger bewertet der CSU-Fraktionsvorsitz als "professionell". Der Ministerpräsident wolle das Beste für die Menschen. "Wirtschaftspolitik ist selbstverständlich auch immer Chefsache", sagt Holetschek. Einen Seitenhieb gegen Söders Vize kann er sich jedoch nicht verkneifen: "Vom zuständigen Minister muss aber deutlich mehr kommen."

Florian Streibl zeigt sich zufrieden mit dem Verhältnis zwischen den beiden. Zwar gäbe es hin und wieder "kleinere Scharmützeln", aber "davon abgesehen arbeiten Söder und Aiwanger sehr gut zusammen", so Streibl. Genau das kritisiert Katharina Schulze in der AZ: "Die schwarz-orange Streitregierung verliert sich in Scharmützeln. Da zanken sich Digital- und Finanzministerium um den Abschied vom Fax. Der Wirtschaftsminister gräbt der Landwirtschaftsministerin die Themen ab." Auch beim Thema Windkraft sieht Schulze Defizite in der Koalition: "Und als das Nein für den Groß-Windpark im bayerischen Chemiedreieck fällt, sind beide Seiten eifrig bemüht, bei den anderen die Schuld auszumachen." Sie fügt hinzu: "Diese Energie hätten sie besser in Werbung für das Projekt gesteckt!"

Die bayerische Grünen-Landtagsfraktionschefin Katharina Schulze spricht in Landshut.
Die bayerische Grünen-Landtagsfraktionschefin Katharina Schulze spricht in Landshut. © Daniel Vogl/dpa

Florian von Brunn attackiert Söder und Aiwanger:"Da passt dann kein Flugblatt zwischen sie"

Auch Politikwissenschaftler Martin Gross bewertet die Stimmung weniger positiv: "Das Verhältnis wird zunehmend – auch öffentlich sichtbar – schlechter." Dabei seien es weniger inhaltliche Unstimmigkeiten, sondern eher eine persönliche Abneigung zwischen den beiden. Auch Florian von Brunn bewertet das Verhältnis als zunehmend schlecht. In der AZ sagt er: "Es ist der Konkurrenzkampf zweier Selbstdarsteller." Nur "wenn es gegen die Ampel geht", sind sie sich einig, so von Brunn. "Da passt dann kein Flugblatt zwischen sie", merkt er an. 

Florian von Brunn: "Die streiten über alles und kommen kaum zum Regieren"

Für Florian Streibl ist in Anbetracht der Spannungen entscheidend, "dass atmosphärische Strömungen niemals die Sacharbeit der Bayernkoalition in Mitleidenschaft ziehen". Klaus Holetschek lobt in der Abendzeitung sein Verhältnis mit Florian Streibl: "Wir schätzen uns und arbeiten in unseren Funktionen als Fraktionsvorsitzende sehr gut zusammen." Zum allgemeinen Klima im Landtag äußert er sich nicht weiter.

Florian Streibl (l.), Fraktionsvorsitzender der Freien Wähler im bayerischen Landtag, und Klaus Holetschek (CSU), Fraktionsvorsitzender der CSU im bayerischen Landtag, geben im Landtag ein Pressestatement.
Florian Streibl (l.), Fraktionsvorsitzender der Freien Wähler im bayerischen Landtag, und Klaus Holetschek (CSU), Fraktionsvorsitzender der CSU im bayerischen Landtag, geben im Landtag ein Pressestatement. © Sven Hoppe/dpa

Martin Gross bewertet das Verhältnis der Spezi-Koalition im Landtag als entspannter als es in Presserunden und Medienauftritten ist. Hier würden "sowohl von CSU- als auch von Freie Wähler-Politikern bewusste Spitzen und Angriffe gegen den Koalitionspartner gesetzt." Florian von Brunn hingegen erzählt in der AZ, dass man "deutlich [spürt], dass da dicke Luft zwischen CSU und Freien Wählern ist". Angeblich hat sich vergangene Woche "ein Abgeordneter der Freien Wähler sogar am Rednerpult über Markus Söder lustig gemacht." Der SPD-Bayern-Chef kritisiert: "Die streiten über alles und kommen kaum zum Regieren."

Politikexperte Werner Weidenfeld: "Erfolglose Zeit"

Auf die Frage nach konkreten Erfolgen der vergangenen 100 Tage antwortet Klaus Holetschek mit einer Liste von gestellten Forderungen und Ideen. Darunter "die Forderung nach einem spürbaren Kurswechsel in der Migrationspolitik" oder "die Besinnung auf den Begriff Leitkultur". Dies seien Initiativen "aus der Mitte der CSU-Fraktion". Florian von Brunn sieht hier jedoch keine konkreten Erfolge. "Es gibt nur Ankündigungen bisher", sagt er in der AZ.  Auch der Politikwissenschaftler Werner Weidenfeld bezeichnet die letzten hundert Tage als "erfolglose Zeit". 

Streibl zeigt sich stolz über Erfolge

Holetscheks Koalitions-Kollege Streibl wird bei der Frage nach Erfolgen etwas konkreter: "Ich bin stolz auf unseren neuen, 149 Milliarden Euro starken Doppelhaushalt, der noch im Frühjahr im Landtag beschlossen werden soll". Zwar bewertet Martin Gross die Erfolge der bayerischen Regierung wie auch Florian von Brunn als "kaum etwas Konkretes", jedoch sei dies "in der kurzen Zeit auch nicht verwunderlich". Auch er lobt den Doppelhaushalt, der "von der Staatsregierung geräuschlos verabschiedet" wurde. 

Politikexperte Martin Gross: "Windräder werden eine große Herausforderung"

Mit Hinblick auf neue Herausforderungen in nächster Zeit sagt Florian Streibl: "Eine Herausforderung wird darin bestehen, ausreichend bezahlbare Energie für unsere Wirtschaft abzusichern." Er fügt hinzu: "Deshalb treibt Wirtschaftsminister Hubert Aiwanger den Zubau erneuerbarer Energieträger in Bayern zu Recht voran." Zuletzt hatte die Windkraft-Thematik und Aiwangers fehlendes Interesse daran für Diskussionen gesorgt.

Auch Martin Gross schätzt "das Thema Energiewende und die dazugehörigen Entscheidungen zu Stromtrassen und Windrädern" als "größte inhaltliche Herausforderung" ein. Auch Florian von Brunn schließt sich dem an: "Wir brauchen dringend Fortschritte beim schnellen Ausbau der Windkraft und von bezahlbaren Wohnungen. Saubere und bezahlbare Energie ist nicht nur für die Bürger wichtig, sondern auch für die Wirtschaft." Katharina Schulze schließt sich dem in der AZ an und fordert konkrete Schritte in Richtung Netzausbau und erneuerbare Energien.

Klaus Holetschek: "Koalitionen sind Vernunftehen ohne Kuschelkurs"

Als "größte koalitionäre Herausforderung" nennt Martin Gross "inwieweit sich Hubert Aiwanger beherrscht in seinem populistischen, teilweise auch an der Demokratie Zweifel anmeldenden, Verhalten". Dies könne gerade vor den Europawahlen  "zu großen Spannungen innerhalb der Staatsregierung führen". Vorallem da CSU und Freie Wähler um ein ähnliches Wählerklientel "buhlen", so Gross. Auch Klaus Holetschek sieht gewisse Konfliktpotentiale. "Koalitionen sind oft Vernunftehen ohne Kuschelkurs. Neben den Zielen der Bayern-Koalition im Koalitionsvertrag geht es um die bevorstehende Europawahl", sagt er in der AZ. 

Klaus Holetschek: "Wir brauchen gute Politik"

Er nennt auch den künftigen Umgang mit der AfD als eine der größten Herausforderungen. "Wir brauchen gute, eigene Politik und ein starkes Profil. Nur so schwächen wir Extremisten und Demokratiefeinde", so Holetschek in der Abendzeitung. Auch Florian Streibl spricht in der Abendzeitung davon, dass ein Rechtsruck "immer spürbarer" wird und weist auf einen Dringlichkeitsantrag hin, der Ende Januar von vier Fraktionen im Landtag gestellt wurde. In letzter Zeit wurde die Position von Hubert Aiwanger gegen Rechts häufig diskutiert und kritisiert, zuletzt auch von Mitgliedern der Freien Wähler. 

Handlungsbedarf sieht Holetschek auch in Bezug auf die zahlreichen Demos, die zuletzt stattgefunden haben: "Die Menschen gehen aktuell auf die Straße, weil viele das Gefühl haben: Unser Land funktioniert nicht mehr. Die Polarisierung der Gesellschaft ist leider unverkennbar." Wie auch Söder zuvor in diversen Fernsehauftritten, beschuldigt Holetschek in der Abendzeitung die Ampel-Regierung. An der Polarisierung habe sie einen "gehörigen Anteil". "Die Vorlage von unausgegorenen Gesetzeskompromissen, die dann innerhalb kürzester Zeit von mindestens einem Koalitionspartner wieder torpediert" werden sorgen für Verunsicherung.

Politikexperte Martin Gross: "Die Spezi-Koalition hat ähnliche Probleme wie die Ampel"

Ähnliches beobachtet Martin Gross jedoch auch bei der bayerischen Regierung: "Die persönlichen Konflikte zwischen Hubert Aiwanger und Markus Söder, als auch die gegensätzlichen Positionen beider Pateien zum Thema Windkraft müssen befriedet und aufgelöst werden, wenn die Staatsregierung nicht permanent von innerkoalitionären Konflikten geprägt sein möchte – und sich damit nicht mehr als das Gegenstück zur Ampelkoalition in Berlin inszenieren könnte." 

Katharina Schulze in der AZ: "Diese Koalition muss jetzt endlich anfangen, richtig zu arbeiten!"

Auch Katharina Schulze fordert von der Bayern-Koalition, ihre inneren Konflikte anzupacken: "Sie müssen jetzt Korrekturen einleiten, im Interesse der Menschen und der Wirtschaft in Bayern." Denn wenn sie "so weitermachen, werden sie nicht einmal das Wenige erreichen, das Sie sich in Ihrem Koalitionsvertrag vorgenommen haben", so Schulze in der AZ. "Diese Koalition muss jetzt endlich anfangen, richtig zu arbeiten!", fügt sie hinzu.

Es liegt in den Augen der Opposition und Experten wohl noch einiges an Arbeit vor der Bayern-Koalition, sowohl inhaltlich als auch zwischenmenschlich. 

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