Teil 9 der AZ-Serie "Münchner Gschichten": Rainer Weiss - Unikum und Urgestein

AZ-Leser Wolfgang "Ramses" Kramer erinnert sich an den Schwabinger und Bohème Rainer Weiss – und an dessen Ende.
Gleich im Nebenhaus von meiner Freundins Bude war das Nachtlokal, "Fendilator". Das "F" kam daher, dass es an der Ecke Fendstraße gelegen war. Der Club war im Erdgeschoss des "Hotel Schwabing".
Dort unterm Dach wohnte "Juchhe" als Dauermieter, ein Typ, der mich unheimlich beeindruckte. Ich hielt ihn für den originalsten aller Schwabinger. Sein rechter Arm war eine Prothese, und auf dem linken Auge trug er eine schwarze Augenklappe.
Er hatte einen schwarzen Vollbart, immer einen schwarzen, breitkrempigen Hut auf; er trug einen schwarzen Gehstock mit Silberknauf und einen weißen, wehenden Schal, nach Künstlermanier nur ein Mal nach hinten geschlagen.
Ein Bohème wie aus dem Bilderbuch! Ihn sollte ich bei meinem Werdegang in Schwabing nie mehr aus den Augen verlieren – tatsächlich bis zu seinem Tod, 40 Jahre später.
Wie ich im Laufe der Zeit mitbekam, war er aus bestem Hause, denn er hatte – abgesehen von seinen alkoholbedingten Ausfällen – gute Manieren und war auch recht gebildet und belesen. Er sagte einmal, er dürfe seinen wirklichen Namen nicht nennen bzw. gebrauchen.
Aber irgendwann rutschte ihm raus, dass er im "Werneck Schlössl" zur Welt gekommen wäre und dass er eigentlich ein "von" im Namen hätte. Wer aber wird schon im "Werneck Schlössl" (seit 1967 dient es als Tagungshaus für die Katholische Akademie in Bayern) geboren? Somit musste er "hochwohlgeboren" sein. Aber wirklich Genaues hat man nie erfahren.
Das also war der Rainer Weiss, und er musste Geld haben, denn wirklich arbeiten sah ihn niemand. Er war zwar Tennislehrer – einarmig, kein Witz –, aber davon lebte er nicht. Konnte er auch gar nicht, denn er war ja auch ein Weiberheld und wenn er bei einer seiner Tennis-Schülerinnen landen wollte, schenkte er ihr eben seine Zeit. Und das passierte sehr häufig.
Sein Spitzname "René Blanc" ist kein Zufall
Kurze Zeit hatte er auch mal eine Kneipe, die "Zirbelstube", aber nicht lange, da er natürlich selber sein bester Gast war. Da hatte man den Bock zum Gärtner gemacht.
Rainer, scherzhaft auch "René Blanc" genannt, soff so was von tierisch, das habe ich nur einmal in meinem Leben gesehen. Oft sah man ihn, bereits am frühen Nachmittag, mit einer Flasche "Dimple"-Scotch (nur das Beste war ihm gut genug) durch Schwabing schlendern, noch relativ nüchtern, aber gegen Ende der Nacht hatte er sicher an die drei Flaschen intus.
Einmal, als ich dann später in Kneipen jobbte, es war im "Popcorn" in der Siegesstraße 17, kam er herein und brüllte schon an der Tür wie ein Ertrinkender: "Meine Leber, meine Leber – schnell eine Flasche Doornkaat!"
Ich gab ihm eine – er setzte sie an und trank die Literflasche zur Hälfte auf Ex.
Dann seufzte er vor Erleichterung und versicherte mir, dass es ihm jetzt besser ginge. Natürlich war das mit der Leber nur Schau, denn wenn er tatsächlich Schmerzen gehabt hätte, wäre er wohl schon damals kurz vor dem Abnippeln gewesen – aber er lebte ja noch locker 25 Jahre.
Allerdings wurde er schon einmal für tot erklärt, da war er gerade mal 29 Jahre alt. Der Überlieferung nach soll er eine Wette abgeschlossen haben, dass er zwei Flaschen Whisky hintereinander auf Ex austrinken würde. Was er auch tat. Danach muss er wohl ohnmächtig geworden sein und gab kein Lebenszeichen mehr von sich. Der Notarzt muss Rainer für tot erklärt haben. Jedenfalls landete er im Leichenhaus.
Bloß – Rainer war nicht tot. Er soll irgendwann aus seiner Ohnmacht aufgewacht sein und hat sich erst mal ausgekotzt. Dann muss er, von innen natürlich, an die verschlossene Tür der Leichenhalle geklopft haben, um rausgelassen zu werden. Dadurch bekam der Nachtwächter, verständlicherweise, so einen Schreck, dass nun wiederum er in Ohnmacht fiel. Schließlich hatte dort niemand von innen zu klopfen – dort hatten nur Leichen zu sein.
Rainer lebte "wieder", erfreute sich noch lange bester Gesundheit und soff sich durch sein weiteres Leben.
Er war schon ein verrückter Typ. Zum Beispiel war er der einzige Mann, den ich jemals mit Minirock in der Öffentlichkeit rumlaufen sah. Einem Lederminirock. Er trug ihn sogar relativ oft. Auch sah man ihn des Öfteren irgendwo in der Occamstraße. Auf dem Fußweg liegend und seinen Rausch ausschlafend. Gestört hat das niemanden – man kannte ihn ja schließlich.
Er machte zeitweise überall ungeheure Zechschulden, aber es war bekannt, dass er immer wieder erbte und dann seine Schulden beglich. Er musste eine ganze Reihe reiche Erblasser gehabt haben, denn nach seinen eigenen Angaben, verprasste er im Laufe der Zeit rund neun Millionen Mark.
Und er war neunmal verheiratet. Als er das neunte Mal geheiratet hatte, traf ich ihn auf der Straße und sagte zu ihm: "Mensch, Rainer, man kann doch nicht nach drei Wochen Bekanntschaft schon heiraten!" Worauf er erwiderte: "Ich kann doch keine heiraten, die ich schon kenne..."
Ein lieber Mensch, sein Image ließ aber nicht zu, das zu zeigen
Eigentlich wollte er zur Abrundung ja noch ein zehntes Mal heiraten, aber das hat er dann doch gelassen.
Wie er mir sagte, hat er sogar ein weiteres Erbe nicht mehr angenommen – er hatte offenbar keine Lust mehr zu prassen!
Um bei den Damen interessanter zu wirken, erzählte er auf Fragen zu seinen Handicaps, dass es Kriegsverletzungen seien. Damit das glaubwürdig war, gab er auch sein Alter zehn Jahre höher an, und natürlich fanden die Ladys, dass er dafür super aussähe.
In einer schwachen Minute erzählte er mir dann mal die Wahrheit. Erstens sein wirkliches Alter und auch, dass er Arm und Auge als Kind verloren hatte – beim Spielen mit gefundener Munition aus dem Krieg.
Im Grunde seines Wesens war Rainer eigentlich ein lieber Mensch. Aber sein Image ließ nicht zu, das zu zeigen. Nach außen mimte er den Super-Macho und Sexisten. Das machte ihn dann wohl irgendwie interessant.
Neben dem Eingang vom "Kinki", das ja im Keller lag, gab es zu dieser Zeit ebenerdig das "Short Stop", das von äußerst gemischter Klientel frequentiert wurde.
Rainer wollte wohl ins "Kinki" und kam im Vorbeigehen in Streit mit einer Tunte vor dem Laden. Es artete wohl in ein Handgemenge aus, wobei Rainer seinen Holzarm verlor. Die Tunte wusste nichts von seiner Prothese, war höchstwahrscheinlich ebenfalls besoffen und schrie jedenfalls völlig aufgelöst und hysterisch, dass sie Rainer den Arm ausgerissen hätte.
Das machte die Runde und sorgte natürlich für höchstes Amüsement in der Szene.
Seinen Abgang wählte er selbst – und auf seine Art
Auch Rainers Ableben war – nun ja – sensationell. Eines Tages machte die Neuigkeit die Runde, er hätte einen Herzinfarkt erlitten, aber es gab keine genaueren Infos, Nur so viel, dass er auf der Intensivstation im Schwabinger Krankenhaus läge.
Es war ein Sonntagmittag. Offensichtlich hatte Rainer keine Lust mehr zu leben. Also riss er sich die Infusionsschläuche aus den Armen und machte sich im langen, weißen Krankenhaushemd davon.
Auf der gegenüberliegenden Straßenseite vom Schwabinger Krankenhaus, in dem er versorgt wurde, gibt es ein italienisches Restaurant in das er schnurstracks reinmarschierte. Als er zur Tür reinkam, schrie er noch ein letztes Mal, mit hochgeworfenen Armen: "Ficken!" Dann fiel er tot um. Einige Tage später traf ich Bekannte, die mir den Vorfall ziemlich genau schildern konnten – sie waren bei dieser Begebenheit gerade beim Mittagessen in besagtem Restaurant.
Das war ein Abgang. den nur der Rainer hinlegen konnte – einzigartig.
Und was haben Sie erlebt? Schreiben Sie an die AZ!
Die AZ wird Sie in diesen Sommertagen unterhalten mit Geschichten aus den Zeiten, in denen München doch noch münchnerischer war als heute. Als Stenze durch die Stadt strawanzten – und Striezis und Schandis aneinandergeraten sind.
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Kennwort: Gschichten
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81373 München
Die AZ wird ausgewählte Gschichten veröffentlichen.
Lesen Sie hier Teil 4 der AZ-Serie "Münchner Gschichten": "An Zwickl-Fünfer mit de kurzn Kartn"
Lesen Sie hier Teil 6 der AZ-Serie "Münchner Gschichten": "Ich war nie ein Striezi oder ein Stenz"