Platzwunde und Promille: Was die Polizei auf der Wiesn in München erlebt – die AZ auf Streife
München - Es dauert rund fünf Minuten bis zum ersten Einsatz. Gerade ist die sechsköpfige Streife an der Wiesnwache losgelaufen, jetzt stehen die uniformierten Polizisten am Fuße der Bavaria. Um die hundert Besucher sitzen – oder liegen – auf der Treppe und am angrenzenden Hügel, manchen steht der Alkoholpegel bereits deutlich ins Gesicht geschrieben. Es ist 17.14 Uhr, als einer der Beamten es sieht.
Nach einem streng prüfenden Blick auf den Hügel flüstert er seinen Kollegen etwas zu, die nicken und steigen zusammen hinauf zu einem allein liegenden Mann, dem das Wiesnbier wohl etwas zu gut geschmeckt hat. Für die Polizisten auffällig: Eben haben sich zwei junge Männer zu ihm gesellt, sie liegen nun links und rechts von dem Schlummernden.
"Es gab schon Flaschenwürfe": Nicht jeder Polizei-Einsatz auf der Wiesn läuft friedlich
"Verdacht auf einen versuchten Taschendiebstahl", erklären die Polizisten später. Doch die Männer behaupten, sich zu kennen. Also prüfen die Beamten, ob das plausibel ist, kontrollieren ihre Ausweise – befinden ihre Aussage für glaubwürdig und setzen ihren Streifengang fort. Zwei Polizisten stehen währenddessen mit dem Rücken zu ihren Kollegen, um das Umfeld im Blick zu behalten. "Wir haben nicht nur Freunde", erklärt Jörg Rucker, der Gruppenführer. "Es gab schon Flaschenwürfe". Viel Zeit für Erklärungen bleibt Rucker jedoch nicht.
An der Treppe zur Bavaria hat sich ein Spaßvogel ans Werk gemacht und ein rot-weiß gestreiftes Absperrband zwischen den beiden Säulen an den unteren Stufen aufgespannt. Die Polizei hat den Tatverdächtigen schnell entdeckt: Ein junger Mann um die 18 hält das Corpus Delicti – eine Rolle Absperrband – triumphierend in den Händen.

Ein angetrunkener Mann sorgt an der Bavaria für Erheiterung
Die Beamten müssen ihm nicht lange erklären, dass Absperrungen in Eigeninitiative nicht erwünscht sind: Als er die Streife erblickt, fängt er direkt an, das Band wieder abzureißen. "Ihr dürft alle sitzenbleiben", erklärt er den Menschen auf den Stufen und genießt die Aufmerksamkeit sichtlich. Offenbar hat er ihnen beim Befestigen des Bandes eröffnet, dass sie den Platz nun räumen müssten.
Die Leute auf den Stufen wirken – wie die Polizei – allerdings eher amüsiert von dem jungen Burschen in Lederhose, der schon das ein oder andere Bier intus zu haben scheint. Konsequenzen hat sein Streich für ihn aber keine. Nur die Rolle Absperrband haben die Beamten konfisziert und schmeißen sie später in einen Müllcontainer. "Damit nicht der Nächste auf die gleiche Idee kommt", sagt Rucker.
In der "Igel"-Formation zieht die Wiesn-Polizei die Blicke auf sich
Die Gruppe streift zu sechst über das Gelände, es wirkt wie ein gemütlicher Spaziergang. "So würden wir normalerweise nie Streife-Laufen", erklärt der Gruppenführer, "sonst würden wir nie ankommen". Doch das schlendernde Schritttempo hat seinen Grund: Auf der Wiesn gebe es viele Reize, und um das kognitiv verarbeiten zu können, müsse man das Tempo anpassen.
Ab und zu bleibt die Gruppe stehen, in der "Igel"-Formation, sprich Schulter an Schulter im Kreis, der Blick nach außen gerichtet. "Dann weiß ich, wer im Rücken steht", erklärt Rucker. Wenn sie da so stehen oder über die Theresienwiese schlendern, werden sie ständig von Besuchern angesprochen.
Ein Brite will seine weibliche Begleitung verhaften lassen
"Can you lock her up?" (deutsch: Können Sie sie einsperren?), fragt ein etwas übermütiger Brite die Polizisten lachend und schiebt seine Begleitung in Richtung der Beamten. Die nehmen's gelassen, schmunzeln ein bisschen und lehnen seinen Vorschlag ab. Dann empfiehlt Rucker ihm die Bar in der Schaustellerstraße, der Brite wollte wissen, wo er Schnaps bekommt. Nachdem er sich noch einmal vergewissert hat, dass die Polizisten seine Freundin wirklich nicht mitnehmen wollen, ziehen die beiden von dannen.
Die nächste Besucher-Interaktion lässt nicht lange auf sich warten. Die Einsatzkräfte werden auf der Wiesn oft angesprochen, erzählt Rucker. "Wir sind das bessere Infoschild", fügt er lachend hinzu.
Auch Fotowünsche muss die Polizei auf dem Oktoberfest erfüllen
"Dürfen wir ein Foto mit Ihnen machen?", fragt eine Gruppe junger Leute die Beamten. Die reagieren amüsiert – die Frage hören sie nicht zum ersten Mal – und lächeln in die Kamera. Etwas später wird ein kleines Mädchen dieselbe Frage stellen und sich stolz neben den doppelt so großen Polizisten für das Erinnerungsfoto stellen. "Danke", ruft sie ihm zu, als sie zurück zu ihrer Mama läuft. Ihre Augen leuchten. Ganz so begeistert von den Beamten ist der nächste Gesprächspartner nicht.
Der Mann mit den langen grauen Haaren, die er im Nacken zusammengebunden hat, liegt zusammen mit seiner Frau am Boden in der Wirtsbudenstraße, als die Polizei ihn bemerkt. Einige Menschen stehen um das Paar herum und bieten ihnen Hilfe beim Aufstehen an. Alleine mag das gerade nicht mehr so recht funktionieren – die beiden sind sichtlich angeheitert. So angeheitert sogar, dass Willi (Name geändert) gar nicht bemerkt, wie ihm das Blut von der Stirn tropft.

"Mia ham jetzt grad an Deal gmacht": Ein verletzter Wiesnbesucher fühlt sich verdächtigt
Die Beamten helfen dem Paar auf. "I hob nix gmacht und I kann grad gehen", sagt der Willi, der gar nicht recht zu bemerken scheint, dass die Beamten ihn nicht festnehmen, sondern ihm helfen wollen. Weil die Platzwunde auf seiner Stirn nicht aufhört zu bluten, bittet ihn die Polizei zu warten, bis die Kollegen der Aicher Ambulanz eintreffen – sie haben die Sanitäter per Funk über den Verletzten informiert. Doch Willis Geduld währt nicht lange. "Mia ham jetzt grad an Deal gmacht", erinnert Jörg Rucker den Verletzten. Er soll so lange warten, bis die Sanitäter ihn kurz angeschaut haben.
Doch Willi kriegt offenbar in seinem Rausch das Gefühl nicht los, dass er hier unschuldig verdächtigt wird und verkündigt, dass er jetzt gehen wird. Das Blut strömt weiter über seine Stirn. "Ihr wart's ja total brav", versichert Rucker dem Protestierenden. Als er dann tatsächlich versucht auszubüxen, hält seine Frau ihn zurück.
Je höher der Alkoholpegel auf dem Oktoberfest, desto mehr Arbeit für die Polizei
In dieser Sekunde kommen fünf Sanitäter um die Ecke, Willi lässt sich versorgen. Ein großes Pflaster bekommt er auf die Stirn gepappt, auf mehr lässt er sich nicht ein. "Danke", sagt er, als er verarztet endlich gehen darf. Als er zwei Minuten später noch mal an der Polizeigruppe vorbeiläuft, ist das Pflaster aber schon wieder verschwunden. Willi und seine Frau schwanken davon.
Jörg Rucker und seine Kollegen werden noch etliche Male angesprochen, bevor sie ihren Streifengang beenden und auf der Wiesnwache zu Abend essen – zur Stärkung für die nächste Runde. Denn je später der Abend, desto höher der Alkoholpegel bei den Wiesnbesuchern. Und desto mehr Arbeit für die Polizei.
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