"Münchner Gschichten": ’s Nannerl vom Land erlebt wilde Nächte in den 70ern

Mit 14, also 1964, trat ich bei meinem Onkel die Ausbildung zur Friseurin an. Ab dem ersten Tag las ich vor Dienstbeginn die AZ. Besonderes Interesse galt damals Hannes Obermeier, später Michael Graeter, mit ihren amüsanten Klatschgeschichten. Ich versank förmlich darin und glaubte nach einiger Zeit, alle Prominenten zu kennen.
Mit 17 führte mich ein riesiger Geschäftsmann in die Münchner Szene ein. Wow! Da tanzten und amüsierten sich viele, die ich aus der Presse kannte.
Streng katholisch in einem Internat aufgewachsen, erstaunte mich diese Freizügigkeit enorm. Es wurde eng umschlungen geknutscht und so weiter. Was für eine Welt tat sich für mich auf!
Ich wollte dazugehören, als Dame. Inspiriert von vielen schönen Frauen, kaufte ich mir schicke mondäne Kleider und riesige Hüte. Zwar wirkte ich damit mindestens zehn Jahre älter, aber es war meine "Rolle". Bald nannten mich Insider "Madame".
Ein Silbertablett mit weißem Pulver wurde herumgereicht
In so einer Aufmachung saß ich äußerst unnahbar im "Short Stop", eine kleine Disco am Oskar-von-Miller-Ring. Plötzlich wurde das Lokal erleuchtet. Ein junger Mann sprang zur mir, öffnete meine Tasche und warf ein Päckchen hinein. Er müsse dringend zur Toilette. Polizisten durchsuchten fast alle Gäste. Ich konnte mir das alles nicht erklären und blieb ruhig und gelassen sitzen. Danach ertönte wieder heiße Musik, und schnell holte der Mann sein Päckchen bei mir ab: "Danke, du hast mich gerettet. Niemand hätte es bei dir vermutet!"
Naiv fragte ich einen Bekannten, wie er diese Aktion einschätze. "Du bist ja wirklich ‘s Nannerl vom Land. Das waren Drogen! Ist dir überhaupt das Strafmaß für diese Menge bewusst?" Es sollte mir eine Lehre sein, dachte ich wenigstens.
Das "Mondi" über dem Adams war zu der Zeit "in". Gemütlich, mit toller Musik und einer Vielzahl von VIPs. Feierstimmung stundenlang. Als geschlossen wurde, ging es erst richtig ab. Ein Silbertablett mit weißem Pulver wurde herumgereicht, und ich fragte mich vollkommen unwissend, was das sei. Mit einem zusammengerollten Geldschein zogen es alle wie einen Schnupftabak in die Nase hoch. Dankend lehnte ich ab, als auch ich dazu eingeladen wurde.
Ich spürte instinktiv, dass dies für mich nicht gut sei. Das Verhalten so mancher bestätigte meine Bedenken. Von vielen fiel der Lack ab.
Im Schwulenlokal "Paramount" legte Wolfgang Fiereck auf
Ein ehemaliges Schwulenlokal in der Corneliusstraße hieß jetzt nach einem gelungenen Umbau "Paramount". Wolfgang Fierek legte zeitweise auf für das illustre Publikum.
Nastassja Kinski, bekannt durch den ARD-Tatort "Reifezeugnis", bewegte sich sehr grazil. Sie war so schön, dass man sie ständig anschauen musste. Einen Kopf größer, setzte sich Marina Langner, die zweitschönste Frau der Welt und ein gepflegtes Model, in Szene.
Arndt von Bohlen und Halbach, stark geschminkt, saß meist nur mit traurigem Blick da und beobachtete die Leute. Eines Tages winkte er mich zu sich. "Sie haben eine große Ähnlichkeit mit einer Freundin von mir, Gina Lollobrigida." Wow, was für ein Kompliment!
Damals war man noch bestrebt, individuell zu sein. Kaufte man sich ein Kleid von der Stange, mehrfach vorhanden, veränderten neue edle Knöpfe von Rabel das Teil in ein Einzelstück. Heute läuft die Menschheit uniformiert herum – leider.
Das "Casanova" in der Klenzestraße war höchst angesagt. Schlangen standen davor und hofften auf Einlass. "Madame" wurde durchgewunken. Später wusste ich, warum: Der muskulöse Türsteher hatte ein Auge auf mich geworfen, mit Erfolg. Rainer Werner Fassbinder saß fast jede Woche mit seiner Clique an der Bar. Der junge bildschöne Sascha Hehn wurde von Mann und Frau verehrt und begehrt. Zwischen leiseren Tönen der angesagten Discohits vernahm man die tiefe, unverwechselbare Stimme der Charakterdarstellerin Ellen Umlauf. Wunderschöne, sehr teuer gekleidete Frauen erschienen nach Mitternacht und versammelten sich an der Theke.
Im Laufe der Zeit lernte ich alle kennen und war ganz begeistert von ihnen. Oft zog ich mit ihnen bis zum Morgengrauen um die Häuser.
"Bitte befriedige mich mit dem Mund. Meine Frau macht sowas nicht"
Meine Mutter wollte im Bad einen Durchlauferhitzer. Ein unscheinbarer Vertreter führte diesen vor. Währenddessen stylte ich mich auf für München. Ich verabschiedete mich und wollte zum Zug. "Sie müssen doch nicht mit der Bahn fahren", sagte er. "Da ich in München wohne, nehme ich Sie gerne mit!" Meine vertrauensselige Mutter bestätigte mich dazu.
In Schwabing standen wir vor einem Wohnblock. Es war brütend heiß, und der Mann bot mir an, in seiner Wohnung einen Drink zu mir zu nehmen. Er müsste noch mal schnell Unterlagen für den nächsten Kunden vorbereiten. Höflich reichte er mir zusätzlich eine Illustrierte, in der ich wissbegierig versank.
Als ich hochsah, ragte mir ein stinkender, verschwitzter Sch… entgegen. "Bitte befriedige mich mit dem Mund. Meine Frau macht sowas nicht!" Voller Ekel sprang ich hoch und wollte die Wohnung verlassen, flehend und bittend stellte er sich vor die Tür und versprach, mir vorher Schmuck im Wert von zirka 1.000 Mark in der Stadt zu kaufen. Empört lehnte ich ab und befahl ihm lautstark, mich sofort in die Innenstadt zu fahren. Hilflos und etwas devot tat er dies dann auch.
Abends im "Casanova" erzählte ich ganz aufgewühlt das Erlebte meinen von mir bewunderten Schönheiten. Ich hoffte auf Entsetzen auch ihrerseits. Stattdessen brachen sie in schallendes Gelächter aus. "Ja, schau dir das Landei an. Für einmal Blasen hätte sie 1000 Mark erhalten!" – "Wie blöd ist die denn?", stimmte die nächste zu.
Der Türsteher aus Niederbayern hatte Großstadterfahrung
Perplex und ratsuchend ging ich zu meinem Freund, dem Türsteher. Er kam aus Niederbayern und hatte schon längere Großstadterfahrungen als ich.
Sogar er lachte mich jetzt aus. "Seit Wochen ziehst du mit diesen Weibern herum und hast bis heute nicht gemerkt, dass es lauter Edelnutten sind?" Ich war sprachlos und fühlte mich mal wieder als "’s Nannerl vom Land".
Trotz der ganzen Versuchungen, Drogen, Alkohol, Geld, Klamotten und so weiter blieb ich immer "sauber". Heute bin ich stolz darauf, mein Geld stets ehrlich verdient zu haben.
Viele dieser sogenannten VIPs stürzten oft erbärmlich vor meinen Augen ab. Ein großer Teil ist schon tot. Aus dem "Nannerl vom Land" wurde eine starke Frau, die ihre Höhen genoss, aber doppelt so viele Tiefen meisterte und überstand.
Dazu passt ein Gedicht von mir:
Wie stolz war ich einmal,
dass man mich "Madame genannt,
doch wie dumm und töricht,
habe ich heute erst erkannt!
Mit Klimbim und großem Make-up
sah ich kleine Kreatur
auf Große herab.
Welches Haarteil, welche Perücken
bildeten täglich neue Gedankenlücken.
Aber gibt es nichts Schöneres,
hat man es entdeckt,
was wirklich an Können
und Kraft in einem steckt!
Und was haben Sie erlebt? Schreiben Sie an die AZ!
Die AZ wird Sie in diesen Sommertagen unterhalten mit Geschichten aus den Zeiten, in denen München doch noch münchnerischer war als heute. Als Stenze durch die Stadt strawanzten – und Striezis und Schandis aneinandergeraten sind.
Haben Sie selbst auch solche Münchner Gschichten erlebt? Schreiben Sie sie auf – und schicken sie, gern mit Fotos (falls vorhanden) – an leserforum@az-muenchen.de
Oder per Post an:
Abendzeitung
Kennwort: Gschichten
Garmischer Straße 35
81373 München
Die AZ wird ausgewählte Gschichten veröffentlichen.
Lesen Sie hier Teil 4 der AZ-Serie "Münchner Gschichten": "An Zwickl-Fünfer mit de kurzn Kartn"
Lesen Sie hier Teil 6 der AZ-Serie "Münchner Gschichten": "Ich war nie ein Striezi oder ein Stenz"
Lesen Sie hier Teil 9 der AZ-Serie "Münchner Gschichten": "Rainer Weiss - ein Unikum und Urgestein"