AZ-Serie "Münchner Gschichten" Teil 11: Münchner Freiheit, die ich meinte

Warum gerade München? Nun, es war nicht die Stadt selbst, wo ich hin wollte, es war Schwabing, ich wollte unbedingt nach München-Schwabing.
Ludwig, ein Schulfreund, und seine Cousine Monika, die seit ein paar Jahren in einer WG in Schwabing wohnten, hatten mir von dem lockeren Leben dort vorgeschwärmt. Sie schilderten eine Freiheit, von der ich mit meinen 18 Jahren schon lange träumte. Es waren diese Schilderungen, die in mir den Entschluss erst auslösten, auch in Schwabing leben zu wollen.
Nur weil er den gut erzogenen Ludwig und dessen Familie kannte und schätzte, entließ mich mein Vormund aus seinem Hoheitsbereich, denn nach der damaligen Zeit stand man in meinem Alter noch unter Kuratel, wie er es nannte. Ich fühlte mich, als wären mir Flügel gewachsen – das richtige Leben konnte beginnen.
Arm wie Kirchenmäuse und gierig nach dem Leben
Zufällig suchte Monika eine Mitbewohnerin für ihre Schwabinger WG. Was lag näher, als dass ich diese Mitbewohnerin wurde. Die Miete für die möblierte Hochparterre-Altbau-Hinterhof-Zweizimmerwohnung mit Küchen-WC-Bad konnte man sich nur in einer Wohngemeinschaft leisten.
Wir teilten durch drei; Monika und ich hatten das große Zimmer, Helga, die Dritte im Bunde, bewohnte ein eigenes, winziges Zimmer, weil sie schnarchte wie ein Bär. Das Küchenklo benutzten wir sowohl als Küche mit der Badewanne als Abspülbecken als auch als Toilette oder Bad – je nachdem. Arm wie Kirchenmäuse und gierig nach dem Leben waren wir bald ein eingeschworenes Trio.
Monika lernte Schreinerin und verbrachte ihre freie Zeit meist hinter dem dichten, pechschwarzen Vorhang, der ihr Bett wie eine Kabine blick- und geräuschfest vom Rest des Zimmers trennte. Ich war mit dem Platz am Fenster zufrieden, denn hier konnte ich durch den Ausblick in die Tiefen des Hinterhofs ein wenig Tageslicht ergattern.
Helga arbeitete als Blumenbinderin und präsentierte uns die von Dornen und Ästen verursachten Risse und Schnitte in den Händen, wenn sie abends heimkam. Damit war auch klar, warum sie morgens die Handschuhe auszog, bevor sie sich die Zähne putzte. Ich kam mir als Büroangestellte echt privilegiert vor.
Vor Sehnsucht nach meinem heimischen Schäferhund und der Katzenfamilie wankte ich einem Entzugsproblem entgegen und kaufte mir, um dieses zu lindern, ein Meerschweinchenpaar. Die beiden Wohnungsgenossinnen waren einverstanden. Auch Obhut und Füttern der putzigen Kerlchen würden wir teilen, nachdem unsere Zimmertüren sowieso immer offen standen.
Bald hatten BHs keine Träger mehr, Pullover waren gelocht
Madame Meerschweinchen, liebevoll Psyche genannt, hatte Fressprobleme; nicht, dass sie zu wenig, sondern weil sie einfach alles fraß – vorwiegend das, was sich von unseren Klamotten auf dem Boden befand, und das war meist der komplette Inhalt des gemeinsamen, viel zu engen Kleiderschranks.
Bald hatten BHs keine Träger mehr, Unterhosen wurden in Stücke gefressen, Pullover gelocht und Blusen um den Kragen gebracht. Das bekam Psyche wohl nicht gut, denn eines Tages lag sie tot im Flur.
Eine Zeit lang räumten wir unsere Sachen auf. Amor, der Überlebende, konnte sich wegen unseres schlechten Gewissens aus vollen Schalen mit feinsten Leckerbissen bedienen und wurde fetter und fetter, was sich rächte. Wenig später lag auch er tot irgendwo.
Jede von uns wähnte ihn im anderen Zimmer, bis wir durch einen eigenartigen Geruch seinen wahren Aufenthaltsort bestimmen und ihn feierlich zu Grabe tragen konnten.
Unser eigener "Laufstall" reichte von der Herzogstraße zur Münchner Freiheit, die Leopoldstraße Richtung Siegestor runter und rauf, dazu ein paar Abstecher in die Seitenstraßen. Anfang des Monats flanierten wir auf der Leopoldstraße noch zur reinen Freude umher und wurden bald Stammgäste im "Hahnhof".
Wie die vielen anderen armen Schlucker genossen wir die preiswerte und schmackhafte Tagessuppe und stopften uns mit dem herrlichen Bauernbrot voll, das es gratis zur Suppe gab. Dabei verschwand regelmäßig die eine oder andere Scheibe für das Frühstück in der Hosen- oder Jackentasche.
Zum schlemmerischen Höhepunkt gelangten wir, wenn wir uns noch einen Kaffee im "Schwabinger Nest" leisten konnten. Unsere Traumspeise, einen halben Gummiadler aus dem Wienerwald in der Herzogstraße, gönnten wir uns – wenn überhaupt – nur sonntags, damit wir sowohl Fleisch als auch Erwerbskosten durch drei teilen konnten.
Mitte des Monats wurden unsere Mahlzeiten auf Miracoli umgestellt, denn außer beim Nudelkochen konnte keine von uns mit Töpfen umgehen. Spätestens ab dem 20. rekrutierten wir unser Essen wieder auf der Leopoldstraße, allerdings ohne es zu bezahlen. Abwechselnd musste eine von uns mit hungrigen Augen an den Tischen vor den Cafés entlang laufen und Suchblicke in die Runde werfen.
Der Trick mit dem Gratis-Gummiadler vom Wienerwald
Meist dauerte es nicht lange, bis jemand gefunden war, der weder gut auszusehen hatte noch charmant sein musste. Er sollte nur zu einem halben oder gar ganzen Wienerwaldhähnchen überredet werden können, indem man ihm versprach, es gemütlich im heimischen Ambiente zu verspeisen.
Diese verlockende Aussicht versetzte manch männliches Wesen schnell in Spenderlaune und seine Fantasie in Vorfreude, die allerdings nicht lange währte. Wenn wir am Tisch saßen und das gebräunte Tier aus dem Wärmesack gewickelt wurde, kamen ganz zufällig meist beide Mitbewohnerinnen nach Hause und setzten sich wie selbstverständlich mit an den Tisch. Der von einem süßen Nachtisch ausgegangene Spender war verstimmt, konnte die beiden jedoch nicht des Tisches verweisen und verzog sich daher, nachdem er den Braten im wahrsten Sinne des Wortes gerochen hatte. Unsere Machenschaften sprachen sich herum, und die Gratis-Gummiadler-Nummer wurde aus dem Programm genommen.
Monikas Bruder trat mit seiner Band einen Monat lang in Münchner Lokalen auf. Um die karge Belohnung seiner Auftritte nicht für ein Hotelzimmer verschwenden zu müssen, bot er uns eine Nacht der Musik gegen die Erlaubnis, mit seinen Musikern in unserem Zimmer nächtigen zu dürfen, was selbstverständlich bei uns auf offene Herzen und Ohren stieß. Bevor die Burschen in tiefen Schlaf auf ihre Luftmatratzen sanken, konnten wir uns an ihrer Musik berauschen und sie sich an ihren selbst gedrehten eigenartig riechenden Zigaretten, von denen sie Monika, aber zum Glück nie mir eine anboten, obwohl ich doch auch schon ein bisschen rauchte.
Ich arbeitete in einem Verlag, wo ich einen Künstler kennen lernte. Ich war stolz darauf, denn ich hatte noch nie einen Künstler persönlich gesehen. Ich fand ihn toll – und er mich wohl auch. Damit änderte sich mein Tages-, vor allem aber mein Nachtablauf total. Sein Tag begann nach dem Ausschlafen, also am frühen Nachmittag, und wenn ich aus dem Büro kam, befand er sich bereits in Hochform und meist schon an der Theke der "7".
In der "7" trafen sich alle. Alle, die meinten, in Schwabing jemand zu sein. Ich erfuhr nicht viel über sie – vielleicht waren auch sie Künstler, vielleicht auch nur Lebens- oder gar Überlebenskünstler, aber eine gewisse Aura des Geheimnisvollen, mindestens aber des Unverstandenseins, gehörte eben dazu. Sie hingen bis in den Morgen hinein auf den Hockern an der Theke und machten wichtige Gesichter.
Wenn mein Künstler und ich nicht vorher Hunger verspürten und im "Mutti Bräu" sagenhaft schmeckende Fleischpflanzerl sowie eine Riesenportion Kartoffelsalat verspeisten, trafen wir uns immer in der "7". Nachdem mir Alkohol nicht schmeckte, hatte ich einen relativ klaren Blick für meine Umwelt. So erfuhr ich dort nicht nur durch den freundlichen Wirt, dass man nicht unbedingt Durst haben musste, um etwas zu trinken.
Alkoholgenuss hätte mich mit Sicherheit nicht so lange durchhalten lassen. Schließlich graute meist bereits der Morgen, wenn ich meinen Künstler zu seiner nahe gelegenen Wohnung schleppte, und dann hatte ich gerade noch ein bis zwei Stunden, um mich für den Job fit zu schlafen – in einem Ein-Meter-Bett mit einem schnarchenden Gesellen neben mir, der mich angefleht hatte, die Nacht mit ihm zu verbringen.
Nach zwei Monaten fühlte ich mich durch und durch erwachsen
Morgens schlich ich hinaus, eilte in die Herzogstraße, tauschte die verrauchten Klamotten gegen frisch Gelüftetes und eilte weiter in den Verlag. Mein Spaß und der Durchhaltewille am Leben mit Künstlern und am Künstlerleben generell verlor durch diese Beanspruchung rapide an Intensität, das spürte ich, und mein Künstler ahnte es auch. Der Sommer nahte und mit ihm die lauen Abende, Maler und Schmuckleute, die bis in die Nacht auf der Leopoldstraße ihre Werke anboten, hin und wieder ein einsamer Musikant, der verträumt auf der Gitarre kratzte, ein Schwätzchen mit diesem, eines mit jenem.
Und ich sollte die Zeit in einer verrauchten Kneipe verbringen, statt dieses Flair zu genießen? Nein, das war es nicht, was ich mir unter dem Leben in Schwabing vorgestellt hatte. Kurz darauf teilte ich mein karges Dasein wieder durchgehend nur mit Monika und Helga und futterte mich wieder mit ihnen im "Hahnhof" satt. Schon nach zwei Monaten gelebter Freiheit fühlte ich mich durch und durch erwachsen. Das Zwangssparen, zu dem mich mein Onkel verdonnert hatte, waren zu Ende. Und wann ich nachts nach Hause kam oder ob überhaupt, interessierte niemanden mehr. Doch all das sollte sich einen Tag nach meinem 19. Geburtstag schlagartig ändern.
Dieses Bild von sich hat Ilka Franz zu ihren Erinnerungen geliefert. Foto: privat
Und was haben Sie erlebt? Schreiben Sie an die AZ!
Die AZ wird Sie in diesen Sommertagen unterhalten mit Geschichten aus den Zeiten, in denen München doch noch münchnerischer war als heute. Als Stenze durch die Stadt strawanzten – und Striezis und Schandis aneinandergeraten sind.
Haben Sie selbst auch solche Münchner Gschichten erlebt? Schreiben Sie sie auf – und schicken sie, gern mit Fotos (falls vorhanden) – an leserforum@az-muenchen.de
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Die AZ wird ausgewählte Gschichten veröffentlichen.
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