Grünen-Politiker Anton Hofreiter gegen Söder: "Aussagen haben direkte Auswirkungen auf meine Sicherheit"
München – Beschimpft, bespuckt und angstmachende Anfeindungen: Nach den Angriffen auf den sächsischen SPD-Spitzenkandidaten Matthias Ecke, den Grünen-Politiker Rolf Fliß in Essen und die Berliner Wirtschaftssenatorin Franziska Giffey, wächst auch unter Mandatsträgern in Bayern die Sorge vor Angriffen. Wie sieht die aktuelle Bedrohungslage im Freistaat vor der Europawahl aus und kam es auch hierzulande bereits zu Attacken?
Das Ergebnis einer Umfrage der AZ bei zahlreichen Parteivertretern ist eindeutig: Verbale Beschimpfungen – im digitalen und analogen Raum – nehmen zu. Darüber hinaus werden immer mehr Wahlplakate beschädigt. Auch die Angst vor körperlicher Gewalt im Freistaat wird größer.
"Mache mir Sorgen um mein Team": Wahlkampfleiter aus Unterhaching schützt Mitstreiter vor Angriffen
Einer der Wahlkämpfer, der diese Veränderungen spürt, ist der CSU-Fraktionsvorsitzende Korbinian Rausch aus Unterhaching. Er leitet in der Gemeinde im Münchner Süden den Europawahlkampf der Christsozialen. "Von Wahl zu Wahl nehmen die Beschädigungen kontinuierlich zu", sagt der Kommunalpolitiker zur AZ. "Das ist nicht nur schlimmer geworden – sowas gab es auch vor zehn Jahren einfach noch nicht."
Um sein Team zu schützen, hat der CSU-Vertreter die ehrenamtlichen Helfer darauf hingewiesen, keine Plakate allein aufzuhängen und auch nicht mit Broschüren auf eigene Faust auf Stimmenfang zu gehen. "Bei meinen ersten Wahlen ab 2011 habe ich mir darüber noch gar keine Gedanken gemacht", meint Rausch. "Jetzt mache ich mir durchaus Sorgen um mein Team."
Beleidigungen gegen Wahlkampfhelfer: Verunsicherung der Bevölkerung als Grund?
Neben Sachbeschädigungen seien zwei seiner Wahlkampfhelfer im Europawahlkampf bereits aggressiv beschimpft worden. Dass sie "vergast gehören", sollen Passanten den Mitstreitern von Rausch zugerufen haben.
Wie dieser Hass in der Gesellschaft überhaupt salonfähig wird? Der Wahlkampfleiter sieht mehrere Gründe für diese beunruhigende Entwicklung: Einerseits gebe es eine politische Unzufriedenheit in der Bevölkerung, andererseits auch eine starke Verunsicherung mit Blick auf die geopolitische und ökonomische Situation.
Diese Gemengelage spitze sich laut Rausch seit der Coronapandemie – als "Querdenker"-Bewegungen starken Zulauf bekamen – weiter zu. Die zunehmende Radikalität in der Auseinandersetzung sei aber auch das "Ergebnis von zehn Jahren AfD", meint der Wahlkampfleiter.
Kritik, dass auch die CSU und Freien Wähler durch populistische Äußerungen zur Verrohrung der Sprache beitragen, ist für den Unterhachinger haltlos: "Sich gegenseitig den schwarzen Peter im demokratischen Spektrum zuzuschieben, halte ich für einen großen Teil des Problems, warum wir bisher gegen die Bedrohungen nicht ankommen."
Grünen-Abgeordneter Anton Hofreiter macht die Staatsregierung für Situation verantwortlich
Der Bundestagsabgeordnete Anton Hofreiter (Grüne) aus dem Landkreis München ist genau gegenteiliger Ansicht. "Söder ist ein demokratischer Politiker, aber seine Aussagen – unter anderem, dass die Grünen nicht zu Bayern gehören und sie die Menschen zum Insektenfressen zwingen – haben direkte Auswirkungen auf meine Sicherheit", sagt er zur AZ.

Seit Ende des Landtagswahlkampfes 2023 habe sich die Lage wieder mehr entspannt, trotzdem sei es unangenehm, "wenn ich am Bahnhof stehe und immer schaue, dass ich eine Deckung von hinten habe, damit mich keiner attackieren kann".
Angst hat Hofreiter vor Gewalttätern nicht. Wichtig sei es aber grundsätzlich dafür zu sorgen, dass politische Debatten wieder zivilisierter werden. "Manche Menschen haben offenbar das Gefühl bekommen, dass Straftaten nicht geahndet werden", meint der Spitzenpolitiker.
AfD-Politiker Gerold Otten: "Es ist meine große Sorge, dass es weiter eskaliert"
Vollkommen anders schätzt die Situation der bayerische AfD-Bundestagsabgeordnete Gerold Otten ein. Ihm zufolge führt die Ausgrenzung der AfD im politischen Alltag zur Spaltung der Bevölkerung. "Das hat das gesellschaftliche Klima nicht besser gemacht", sagt er zur AZ. "Es ist wirklich meine große Sorge, dass es weiter eskaliert. Ich hoffe, dass es keine Schwerverletzten oder sogar Tote gibt."
Otten sei bereits mehrmals in vergangenen Wahlkämpfen bedroht worden, doch einschüchtern lässt er sich nicht: "Ich habe mehrere Jahre Kampfsport trainiert – gegen einige könnte ich mich, wenn es bedrohlich wird, schon zur Wehr setzen. Das ist aber nicht der Sinn der Sache, weil ich Gewalt ablehne."
Forderung nach harten Jugendstrafen und Herabsenkung des Strafmündigkeitsalters
Ein erster Schritt zur Deeskalation ist für den Abgeordneten, dass alle Parteien wieder miteinander ins Gespräch kommen, indem die Politiker – darunter auch die der AfD – in der verbalen Auseinandersetzung abrüsten.
Darüber hinaus fordert er mit Blick auf junge Gewalttäter, die Absenkung der Strafmündigkeit auf zwölf Jahre. Wichtig sei es allerdings bereits Jugendlichen in der Schule klar zu machen, andere Meinungen zu akzeptieren. "In einer Demokratie geht es darum etwas auszuhalten."
Chefin von Bayerns Linkspartei pocht auf mehr Aufklärungsangebote im Bildungsbereich
Bei der Linkspartei sieht man die Forderung, Strafen gegen Jugendliche zu verschärfen, wiederum kritisch. Die Landesvorsitzende Adelheid Rupp fordert – gerade mit Blick auf die hohen Zustimmungswerten für die AfD unter Erstwählern – umfassendere Aufklärungsangebote an Schulen. "Die Staatsregierung müsste hier stärker etwas entgegensetzen", sagt die Politikerin zur AZ.
Ebenso hält Rupp die Bemühungen der Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) und zahlreichen Innenministern der Länder für nicht zielführend. Die Politiker wollen gegenüber Ehrenamtlern sowie Amts- und Mandatsträgern verübte Straftaten härter sanktionieren. Laut der Linkspolitikerin gebe es aber bereits zahlreiche rechtliche Möglichkeiten, die Taten müssten von den Sicherheitsbehörden nur konsequenter verfolgt werden.
Zahlreiche Verfahren eingestellt: Werden Straftaten nicht mit genügend Effizienz verfolgt?
Eine umfassende Übersicht über die Anfeindungen und deren Verfolgung gibt die Monitoring- und Transferplattform Radikalisierung. Durch das Verbundprojekt werden Attacken auf Politiker mit Unterstützung des Bundeskriminalamts und Partnern aus der Wissenschaft seit einigen Jahren beobachtet.
Eine Auswertung aus dem Herbst 2023 zeigt, dass 38 Prozent der befragten Politiker in Deutschland zwischen Mai und Oktober des vergangenen Jahres Anfeindungen erlebt haben. 72 Prozent davon in verbaler oder schriftlicher Form, 26 Prozent durch Hasspostings und zwei Prozent durch tätliche Übergriffe.
Lediglich ein Prozent der angezeigten Fälle führte zu einer Verurteilung. Die deutliche Mehrheit der Ermittlungen ist der Statistik zufolge noch nicht abgeschlossen, 39 Prozent der Verfahren wurden eingestellt oder gar nicht strafrechtlich verfolgt.
224 Vorfälle im Jahr 2023: Grüne Partei von Attacken am meisten betroffen
Welche politischen Parteien von den Angriffen besonders betroffen sind, zeigt eine Antwort der Bundesregierung auf eine Anfrage der AfD-Fraktion. Der zufolge sind die Grünen mit 224 Vorfällen am stärksten betroffen, wie vorläufige Zahlen aus dem Jahr 2023 zeigen. Hinter der Partei folgt die SPD mit 115 Attacken – gleichauf mit der AfD.
Trotzdem sieht die Europawahl-Spitzenkandidatin der Bayern-SPD, Maria Noichl, keine Lösung der Probleme durch die Verstärkung der Polizeipräsenz. Stattdessen gibt es, wenn man der Parlamentarierin folgt, vor allem im Internet Aufholbedarf. Denn die Hassbeiträge anonymer Akteure blieben dort größtenteils unbestraft. "Es werden immer mehr Hasser, die diese Plattformen übernehmen", sagt sie zur AZ. "Deshalb finde ich eine Einschränkung dieser Netzwerke für dringend geboten."
Bayerns SPD-Spitzenkandidatin zur Europawahl: "Dieses konsequente Ampel-Bashing ist die Lunte"
Dass ausgerechnet die SPD mit derartig vielen Anfeindungen zu kämpfen hat, trifft die Sozialdemokratin "tief ins Herz". "In der Zeit, als Hitler die Macht ergriffen hat, waren die Sozialdemokraten auch Feinde, die auserkoren wurden, und am Ende im KZ landeten", erinnert sie.
Ähnlich wie Hofreiter macht Noichl neben der AfD auch die Bayerische Staatsregierung für die Stimmung im Freistaat mitverantwortlich. "Dieses konsequente Ampel-Bashing ist die Lunte, die man hinlegt", so die Einschätzung der Politikerin. "Wenn die dann einer anzündet, ist es aber nicht okay, wenn sich Söder und Aiwanger wegdrehen und so tun, als ob sie nichts damit zu tun hätten."
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