Interview

Verein Zeltschule aus München hilft im Erdbebengebiet: "Kümmern gehört nicht zu den Stärken der UN"

Am 6. Februar 2023 reißen schwere Erschütterungen die Menschen in der Türkei und Syrien ins Nichts. Der Verein Zeltschule e.V. aus München ist mittendrin. Wie schaut es mittlerweile vor Ort aus? Die Vorsitzende Jacqueline Flory kritisiert Machthaber Assad, aber auch die Vereinten Nationen.
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Elem (7) ist eine der Überlebenden, sie hat ihre Familie verloren. Sie ist Teil des Embrace-Projektes, mit dem der Münchner Verein Kindern ein neues Zuhause geben möchte.
Elem (7) ist eine der Überlebenden, sie hat ihre Familie verloren. Sie ist Teil des Embrace-Projektes, mit dem der Münchner Verein Kindern ein neues Zuhause geben möchte. © Zeltschule e.V.

München - Der 6. Februar 2023 war für die Türkei und Syrien ein Unglückstag. Und für rund 60.000 Menschen auch ihr Todestag. Zwei Beben der Stärke 7,6 und 7,7 erschütterten die Südosttürkei und Teile Syriens.  Nach Angaben der Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte starben in  Syrien rund 6800 Menschen. Doch auch das Leben der Überlebenden hat sich für immer verändert, und das, obwohl ihre Ausgangssituation in dem Bürgerkriegsland ohnehin schlimm war.

Es kam noch schlimmer. Der Verein Zeltschule e.V. aus München ist in der Region tätig und weiß, wie dramatisch die Situation vor einem Jahr war - und wie sie jetzt ist. In der AZ erzählt die Vorsitzende Jacqueline Flory von kleinen Kindern, die es aus den Trümmern geschafft, aber ihre Familien verloren haben, vom Wiederaufbau ihrer Zeltschulen für Geflüchtete und von wenig Hilfe von Seiten der syrischen Regierung und den Vereinten Nationen.

Die Vorsitzende des Vereins Zeltschule e.V.: Jacqueline Flory.
Die Vorsitzende des Vereins Zeltschule e.V.: Jacqueline Flory. © Zeltschule e.V.

AZ: Frau Flory, ein Jahr ist das schwere Erdbeben in der Türkei und Syrien nun bald her. Sie waren damals als eine der Ersten in Syrien, um zu helfen. Was war Ihr erster Gedanke?
JACQUELINE FLORY: Die Zerstörung war unvorstellbar. Neun unserer Camps waren völlig kaputt, dabei hatten die Geflüchteten in den Lagern noch "Glück", denn über ihnen brachen wenigstens nur Zeltplanen zusammen, so hatten wir Gott sei Dank keine Todesfälle. In den umliegenden Dörfern und Gemeinden war es umso schlimmer. Händler, mit denen ich jahrelang zusammengearbeitet hatte, wurden unter ihren Häusern verschüttet, tagelang. Mit einigen habe ich noch telefoniert, ehe sie starben. Sie wussten, dass es keine Rettung aus den Trümmern gibt.

Verein Zeltschule aus München hilft im Erdbebengebiet: "Die Menschen leben in einem Albtraum"

In der Öffentlichkeit ist die Tragödie angesichts neuer Krisen in den Hintergrund gerückt. Wie geht es den Menschen?
Gerade in Idlib sieht es vielerorts noch genauso aus wie am Tag nach dem Beben. Noch immer liegen Leichen unter Trümmern begraben, es hat kein Wiederaufbau, keine "Heilung" stattgefunden. Tausende von Menschen sind immer noch obdachlos, es gibt zu wenig sauberes Trinkwasser. Und zudem ist in Idlib auch nach wie vor unvermindert Beschuss. Die Menschen dort leben also in einem Albtraum.

Gibt es Schicksale, die Sie besonders berührt haben?
Alle Schicksale dort berühren mich. An dem Tag, an dem sie mich nicht mehr berühren, würde ich vermutlich mit meiner Arbeit aufhören. Aktuell bin ich tief erschüttert von den Geschichten der Waisenkinder, die das Erdbeben hinterlassen hat. Viele Kinder haben in der Erdbeben-Nacht ihre Eltern verloren, haben selbst aber überlebt, vielleicht weil sie kleiner und leichter sind und sich durchs Geröll kämpfen konnten. Diese Kinder haben oft monatelang völlig allein auf der Straße gelebt, obdachlos, krank, mangelernährt, schwer traumatisiert. Nicht selten waren Acht- oder Neunjährige für ein kleineres Geschwisterkind verantwortlich. Ihre Geschichten sind oft schwer zu ertragen. Diese Kinder mussten Müll essen, betteln, stehlen, um zu überleben. Wir sind gerade dabei, im Rahmen unseres Embrace-Projektes diesen Kindern wieder ein Zuhause zu geben, sie bekommen medizinische und psychologische Hilfe.

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Wie steht es um den Wiederaufbau Ihrer Zeltschulen?
In den ersten Wochen nach dem Erdbeben mussten wir erst einmal die zerstörten Wohnzelte der Menschen wieder aufbauen, denn sie sind ja mitten im Winter obdachlos geworden. Das hatte Vorrang. Außerdem mussten wir neue Wassertanks und Wasserspeicher besorgen, viele wurden im Beben zerstört, was zu einer extremen Verknappung von sauberem Trinkwasser führte und die Cholerazahlen in der Region wieder ansteigen ließ. Erst dann konnten wir uns um den Wiederaufbau der Schulen kümmern. Insgesamt haben wir fast fünf Monate gebraucht, um den Vorher-Zustand wieder herzustellen. Für die Kinder war das eine sehr schwierige Zeit, denn die Schulen sind der Mittelpunkt der Camps und für die Kinder der einzige Bezug zu einer normalen Kindheit.

Woran fehlt es am meisten?
Es fehlt an allem. Um die tiefen Furchen, die das Erdbeben in der Region hinterlassen hat, erträglicher zu machen, bräuchte es zunächst einmal schweres Gerät aus dem Ausland, das Trümmer entfernt, Leichen birgt, Aufräumarbeiten übernehmen kann, Straßen wieder befahrbar macht. Aber das ist aufgrund der politischen Situation fast unmöglich. Auch jenseits des Erdbebens gibt es so viele Probleme.

Welche?
Die syrische Lira hat ihren Wert verloren, die Lebensmittel sind knapp, Medikamente gibt es fast gar nicht mehr in der Region. Strom gibt es nur, wenn man einen eigenen Generator hat, aber der Diesel für diesen Generator ist fast unbezahlbar, deswegen leben die meisten Menschen ohne Licht und Wärme, seit Jahren. Es ist fast unmöglich für die Menschen, ihr Überleben zu sichern, ganz zu schweigen von Wiederaufbauarbeiten. Was im Erdbeben verloren wurde, bleibt verloren.

Das Regime bekämpft die Menschen in Idlib 

Was tut das syrische Regime für die Menschen?
Gar nichts. Das Regime sieht die Menschen, die in Idlib leben, als Staatsfeinde an, sie haben nichts vom Regime zu erwarten außer weiteren Angriffen. Fast täglich kreisen russische Jets über Idlib, fast täglich gibt es Beschuss, dabei haben die Menschen ohnehin nichts mehr. Die syrische Propaganda stellt es so dar, als sammelten sich in Idlib Terroristen, radikale Widerstandskämpfer, die die Regierung stürzen wollen. Dabei sind die Hälfte der drei Millionen Einwohner Kinder, die ihr Zuhause schon vor Jahren verloren haben, es aber nie über irgendeine Landesgrenze ins Ausland geschafft haben, sondern jahrelang als Kriegsnomaden unterwegs waren und einfach immer weiter in den Norden gingen. In Idlib geht es dann nicht mehr weiter, die Region ist quasi abgeriegelt.

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Was kreiden Sie den Vereinten Nationen an?
Viel. Zu den schlimmsten Nebenwirkungen meiner jahrelangen Flüchtlingsarbeit gehört definitiv die völlige Desillusionierung über die UN. Ich bin heute der Ansicht, dass die Probleme eines Apparates wie der UN systemisch nicht dafür gemacht sind, Menschen wirklich zu helfen. Das beginnt mit dem Problem, dass die UN ja von Staaten finanziert wird, die alle eine völlig eigene politische Agenda haben. Es geht weiter damit, dass die UN ein derart großer Verwaltungsapparat ist, dass es keinerlei Kontakt zwischen der Ebene, auf der die Entscheidungen getroffen werden - meist in einem klimatisierten Büro Tausende Kilometer entfernt von der Katastrophe – und der Ebene der Betroffenen gibt. Die "Hilfe" hat daher oft nichts damit zu tun, was tatsächlich gebraucht würde.

"Kümmern gehört nicht zu den Stärken der UN" 

Haben Sie ein Beispiel?
In fast jedem Flüchtlingslager steht mindestens eine UN-Toilette und eine UN-Mülltonne. Oft sind das Lager, in denen mehrere Tausend Menschen leben. Wenn ich dann nachfrage, ob diese Mülltonne oder diese Toilette regelmäßig geleert, gesäubert, gewartet wird, ist die Antwort immer nein. Es sind einfach noch Klos aus einem Einsatz in Afrika übrig, also verteilt man sie in Syrien, ohne sich Gedanken darüber zu machen, dass in einem Camp mit so vielen Leuten diese Toilette nach einem Tag voll ist, dass man sich langfristig darum kümmern müsste, denn die Geflüchteten selbst haben keinen Zugang zu den Chemikalien, die man da ständig nachfüllen müsste, sie können auch keine Müllentsorgung veranlassen, denn womit sollten sie diese bezahlen? Aber genau das ist das Problem: Kümmern gehört nicht zu den Stärken der UN, denn das würde langfristiges Auseinandersetzen mit den Bedürfnissen und Nöten der Betroffenen erfordern. Genau hier wollen wir ein Gegengewicht setzen.

Wie machen Sie das?
Wir sind im ständigen Kontakt mit den Menschen in unseren Camps, wir fragen beständig ab, was gebraucht wird und re-evaluieren die Maßnahmen gemeinsam mit den Geflüchteten, um zu sehen, was weiter ausgebaut werden sollte und was sich als wenig effektiv erwiesen hat. Solange Entwicklungshilfe nicht umdenkt, auf UN-Ebene, aber auch auf EU-Ebene, wird immer weiter Hilfe – und Millionen von Spendengeldern - ins Leere laufen. Für mich persönlich, und für viele Geflüchtete aus unseren Camps, war es aber der größte Fehler der UN, nach dem Erdbeben mit Assad die Hilfsgüterlieferungen zu koordinieren.

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"Ein neues Erdbeben könnten wir nicht verhindern"

Warum?
Darüber war und bin ich fassungslos, denn es hat Assad ermöglicht, sich wieder als Staatsmann zu inszenieren, der an internationalen Tischen willkommen ist. Das hätte nie passieren dürfen.

Sie bauen gerade in Idlib die 50. Zeltschule. Welche Maßnahmen ergreifen Sie, damit es erdbebensicherer wird?
Keine, denn das ist unmöglich. Wenn jemand erdbebensichere Zelte erfindet, freue ich mich sehr, aber im Moment sind wir damit beschäftigt, die Wunden des letzten Bebens zu heilen. Die Kinder brauchen Hoffnung und Normalität und einen Ort, an dem sie Kind sein dürfen, deswegen werden noch viele weitere Schulen gebraucht. Wir erleben gerade überall auf der Welt, zu wie viel Hass es führt, wenn Kinder ohne Zugang zu freiheitlicher Bildung aufwachsen, wenn ihnen Hass beigebracht wird. Das lässt sich nur ändern, wenn wir nicht immer neue Generationen von Kindern ohne Bildung aufwachsen lassen, ohne Perspektive. Ein neues Erdbeben könnten wir nicht verhindern, aber viele andere Probleme, die die Region hat, ließen sich verhindern. Daran müssen wir weiter arbeiten.


Spenden an Zeltschule e.V.: DE44 7015 0000 1004 3195 29

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