Christian Springer nach Erdbeben in der Türkei und Syrien: "Ich habe wahnsinnige Wut im Bauch"
AZ: Herr Springer, haben Sie schon das nächste Flugticket in den Libanon gebucht?
CHRISTIAN SPRINGER: Ich werde Anfang März runterfliegen.
Ihr Verein Orienthelfer e.V. unterstützt von dort aus die Erdbebenopfer in Syrien. Wie ist die Lage?
Syrien steht weiter im Fokus, aber ich habe unser Team im Libanon auch angewiesen, die syrischen Flüchtlinge im Libanon nicht zu vergessen. Wir dürfen nicht den Fehler machen, den ich bei anderen kritisiere: das eine Leid gegen das andere aufwiegen. Um den Erdbebenopfern sofort zu helfen, haben wir bisher zwischen 5.000 bis 6.000 Decken nach Syrien gebracht, nun haben wir aber 10.000 Stück nachgekauft. Ein Teil davon kommt denen zugute, für die sie ursprünglich gedacht waren.
Geld für Decken, Matratzen und Essen
Sie liefern aber weiterhin auch nach Syrien?
Wir liefern täglich Decken und Matratzen dorthin. Viele Syrer sind auch in südliche Gebiete geflohen, weil es im Norden keine Unterbringungen mehr gibt - Schulsäle, Turnhallen sind zerstört. Viele übernachten einfach auf der Straße. Hier können wir etwas leisten, was die Internationale Hilfsgemeinschaft nicht kann: dezentral helfen. Wir konnten auch die ersten 80.000 Euro an unseren langjährigen Partner übergeben, die von türkischer Seite ins syrische Erdbebengebiet gelangen. Diese Nothilfe dient zum Ankauf vor Ort von Decken, Zelten, Essen.
Wie schätzen Sie die Lage ein?
Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll. Ich habe eine wahnsinnige Wut im Bauch. Ich kann Ihnen nur Horrorgeschichten erzählen - ich habe schreiende, weinende Menschen aus Nordsyrien am Telefon, die sagen: "Ich stehe neben Toten, Christian. Tu irgendwas!" Sie können die Menschen nicht begraben, weil sie nicht mal mehr eine Schaufel haben. Wenn ich mich daran erinnere, wie wir uns wegen der WM in Katar in Sachen Menschenrechte aufgeführt haben. Und jetzt, wo wir Menschenliebe zeigen könnten, geht es uns komplett am Hintern vorbei.
"Das internationale Vergessen bringt mich auf die Palme"
Wen meinen Sie konkret?
Nicht die Menschen, die uns und anderen spenden, sondern die Politiker. Das öffentliche, internationale Vergessen und Verschweigen bringt mich auf die Palme. Ich bin nicht mehr verzweifelt, sondern wütend. Es ist das größte Erdbeben in den letzten 100 Jahren, es werden 100.000 Tote werden, Hunderttausende an Verletzten. Es gibt schon rund 50.000 Verdachtsfälle auf Cholera. Wer tut denn da was? 140 Lkw der Vereinten Nationen kamen vier Tage nach dem Beben an - für über vier Millionen Betroffene. Das ist überhaupt gar nichts.
Deutschland hat diese Woche die Erdbebenhilfe nochmal aufgestockt - auf 108 Millionen Euro insgesamt. Also 50 Millionen Euro mehr, von diesen 17 Millionen für Syrien. Immer noch zu wenig?
Viel zu wenig. Neun Millionen Betroffene gibt es in Syrien. Sollen die sich jetzt für 1,80 Euro bedanken?! Was glauben Sie, was mit den Kindern los ist, die es aus den Häusern rausgeschafft und noch lange die Schreie der Verwandten in den Trümmern gehört haben? Millionen von Menschen sind traumatisiert.

"Was Deutschland an Hilfe leistet, verdient Ronaldo in einem Spiel"
Das Deutsche Rote Kreuz hat gerade vermeldet, dass die täglichen Spendensummen schon weniger werden.
Jetzt ist die Spendenbereitschaft noch groß, aber in einem Viertel- oder halben Jahr - ein jetzt dreijähriges Waisenkind ist dann erst dreieinhalb - werden wir kein Wort mehr darüber verlieren. Es gibt dort Familien neben Schutthaufen, die haben keine Toilette, kein Glas, kein Geschirr, gar nichts mehr. Mir braucht niemand erzählen: Jetzt haben wir wieder ein paar Millionen Internationale Hilfe geschickt. Das ist eine Frechheit. Das verdient Ronaldo in einem Spiel, was wir an Hilfe leisten. Das hier ist aber nicht nur die Wut des Springers, auch diese Menschen rufen mir ins Telefon: "Wo seid ihr? Sind wir nichts mehr wert?"
"Wenn man mal an diesen Punkt kommt, dann weiß man, welche Katastrophe das ist"
Ihr Verein Orienthelfer e.V. hilft vor Ort zumindest im Kleinen.
Man kommt sich wie ein Scheißkerl vor, wenn man zu den Menschen kommt, die gar nichts mehr besitzen und ihre Verwandten verloren haben, und ihnen dann ein paar Decken gibt. Das ist ein Tropfen auf den heißen Stein. Ich habe auch schon Werbung für Leichensäcke bekommen. Wenn Sie mit Ihrer Hilfsorganisation mal an diesen Punkt kommen, dann wissen Sie, mit welcher Katastrophe man es zu tun hat.
Was fordern Sie?
Es ist eine langfristige Hilfe notwendig. Ich werde an die Bundesregierung schreiben, dass wir zwei Dinge brauchen. Erster Punkt: Es wird Hilfsgut von der syrischen Regierung geklaut. In Teile des Nichtregierungsgebiets fahren Helfer von uns gar nicht mehr rein, weil es lebensgefährlich ist. Es ist bereits ein riesiges Geschäft mit Hilfsgütern angelaufen, Helfer werden überfallen. Wir brauchen dort unten internationale bewaffnete Kräfte, die die Helfer beschützen.
Die zweite Forderung?
Assad bombardiert tagtäglich das Erdbebengebiet - und niemand sagt etwas. Wir hatten die Sicherheitskonferenz und keiner macht die Klappe auf: "Du Arschgesicht, hör jetzt mal auf zu bombardieren!" Es geht um Millionen von Menschen, die nicht mal ihre Toten begraben können. Das werden sie uns nie im Leben verzeihen. Zu Recht.
Was planen Sie im Libanon?
Wir machen weiter, werden mehr Decken einkaufen und Gespräche führen, wie es weitergeht. Ich kann mir gut vorstellen, dass wir uns auch um Kinder und Witwen kümmern werden, Verletzte, die aufgepäppelt werden müssen - auch psychologisch. Ich will mich auch in einem Jahr noch um Erdbebenopfer kümmern, wenn es niemand mehr tut. Ich bin da stur.
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