3.500 km bis in die Türkei: Münchner auf abenteuerlicher Radtour in den Orient
München/Samandag - Als läge gerade ein Geschichtsbuch offen neben ihm, sprudelt aus Peter Harnisch (64) ganz selbstverständlich historisches Wissen über den Orient heraus. Glücklicherweise hat er das alles im Kopf und muss eben nicht Bücher dafür mitschleppen.
Sonst hätte der Münchner noch viel fester in die Pedale treten müssen als mit seinem 20 Kilo schweren Gepäck. Damit trat er Ende August sein neuestes Rad-Abenteuer an. Von München aus in die türkische Region Hatay. 3.500 Kilometer weit.
50.000 Menschen wurden durch das Erdbeben in Hatay getötet
Rund sechs Wochen war er dafür unterwegs, nun ist er am Ziel angelangt. Letztlich ist er sogar rund 3.700 Kilometer geradelt, Ausflüge vor Ort eingerechnet. Die AZ spricht mit ihm, während er in der türkischen Grenzregion zu Syrien verschnauft und die vielfältigen Eindrücke verarbeitet. Dort, wo noch immer Staub in der Luft hängt und Bagger Trümmer vom schweren Erdbeben am 6. Februar wegräumen. Rund 50.000 Menschen haben dort ihr Leben verloren.
Es ist nicht die erste solche außergewöhnliche Fahrrad-Tour des Historikers. Iran, Armenien, Georgien und Aserbaidschan hat er schon auf diese Weise erkundet. Dieses Mal hatte er sich die Region Hatay auserkoren, noch bevor das Erdbeben dort Anfang des Jahres alles verändert hat. Kann man dort überhaupt hinfahren? Stört man da nicht nur? Diese Fragen hat sich auch Harnisch im Vorfeld gestellt. Doch die Menschen vor Ort bestärkten ihn in Gesprächen, die Tour zu wagen. Nun hat er mit eigenen Augen gesehen, mit eigenen Ohren gehört, wie es den Menschen ergeht.
Antakya, erzählt der Münchner Peter Harnisch, sei "flächendeckend zerstört"
Die Straßen und Wege seien alle passierbar gewesen. "Im letzten halben Jahr ist wahnsinnig viel aufgeräumt worden. Das hat einmal mehr gezeigt, wie fleißig und effizient die Türken sind", sagt der Münchner der AZ. Die Stadt Antakya allerdings sei "flächendeckend zerstört" und mittlerweile "richtig platt gemacht", weil Trümmer abgetragen wurden.
Harnisch ordnet die historische Bedeutung des Ortes ein: "In Antakya hat Petrus als erstes missioniert. Dort gibt es auch noch eine Petrus-Grotte mit einer kleinen Kirche, die Papst Johannes Paul II. als erste Kathedrale der Welt bezeichnet hat." Wie steht es um sie nach den schweren Erschütterungen? "Es gibt sie noch, sie ist nicht zerstört, aber abgeriegelt - aus statischen Sicherheitsgründen."
Viele haben Antakya verlassen und bei Verwandten untergekommen
So ist es auch bei vielen anderen Kirchen, berichtet Harnisch. In der Region lebten viele Araber mit christlichem Glauben. Er beschreibt die Stadt als sehr tolerant, offen und multikulturell. Im römischen Weltreich sei sie nach Rom und Alexandria die drittgrößte Stadt gewesen. Zeitweise galt sie als syrisch.
Wo leben die Bewohner jetzt? Viele seien zu Verwandten in andere Teile der Türkei gegangen, erzählt Harnisch. Es gebe auch noch Notlager, diese müssten dringend winterfest gemacht werden. Das Erdbeben hat aber nicht nur Trümmer hinterlassen. Sondern auch Traumata. Gerade viele Kinder bräuchten psychologische Unterstützung, hat Harnisch vor Ort erfahren. "Es gibt Kinder, die auf einmal nicht mehr rechnen können, es über Nacht verlernt haben, weil sie so traumatisiert sind."
Staub liegt noch immer in der Luft
Auch beschreibt der Rad-Abenteurer, dass immer noch Staub in der Luft liege, weil Bagger und Lastwagen Trümmer wegbrächten. "Das muss in den ersten Wochen schrecklich gewesen sein." Regen wird erst im November erwartet, der die Luft reinwaschen könnte. Besonders den Atem stocken ließen ihn "angebrochene Häuser, bei denen die Fassade fehlt und man in möblierte Wohnungen schaut" – ein Blick in vergangene Leben, verlorene Heimat.
An seiner Endstation Samandag (von dort hat er unter anderem auch die armenischen Dörfer am Musa Dagh besucht) seien die Zerstörungen nicht so großflächig wie in Antakya. Auch wenn die Auswirkungen immer noch im alltäglichen Leben zu spüren sind. Etwa bei der WLAN-Verbindung im Hotel, die erst jetzt, Monate später, wieder für die Zimmer hergestellt werden konnte.
Die Kontraste der Landschaft haben Peter Harnisch verzaubert
Natürlich ist bei solch einer Reise auch der Weg das Ziel. Harnisch hat Österreich, die Slowakei, Ungarn, Serbien, Rumänien und Bulgarien passiert. Die Kontraste der Landschaft haben den Historiker verzaubert: vom Donaudurchbruch in den Karpaten über das Marmarameer, die gegensätzlichen Städte Istanbul mit seinem "antiken, byzantinischen und osmanischen Erbe" und Ankara mit seinem kemalistischen Erbe von Atatürk (sehr moderne Metropole: "Den Muezzin hört man in Ankara kaum, er kann sich gegen den Großstadtlärm gar nicht durchsetzen. Auch wenn er es versucht") bis hin zu den anatolischen Steppen mit den riesigen Salzseen. "Hier habe ich mich wie ein einsamer Steppenwolf gefühlt." Die Salzseen seien nun im Spätsommer völlig verkrustet. Ein neuer Anblick für ihn.

Auf seinen Stationen in der Türkei weckten den Historiker die Rufe des Muezzin meist um 5.30 Uhr, nach dem Frühstück brach er wenn möglich gegen 7.30 Uhr für die nächste Rad-Etappe auf. Die längste Strecke an einem Tag: 133 Kilometer, das war noch in Österreich auf dem Donauradweg. Die ersten drei Tage seiner Tour schüttete es ununterbrochen - aber nach Wien, das war schon vorher seine Prognose, würde es nicht mehr regnen. So kam es auch.
In Rumänien passierte dem Münchner ein Missgeschick
War das Radeln nicht sehr anstrengend? Je länger er unterwegs war, desto mehr trat ein Trainingseffekt ein, erzählt er. Er schätzt, dass das auch an der Höhenlage von über 1.000 Metern in Zentralanatolien lag. Stichwort: Höhentraining, wie es auch Sportler betreiben.
In Rumänien passierte ihm dann noch eine "irre Geschichte": Er gab seine Wäsche bei seinem Pensionsbesitzer ab, der ihm diese waschen wollte. Doch am nächsten Tag fehlte sowohl jede Spur von dem Mann, als auch von der Wäsche. Als Harnisch – nur noch im Besitz einer kurzen Hose und eines Unterhemds – bei ihm per E-Mail nachfragte, was los sei, bekam er kurz darauf einen Anruf von einer entfernten Verwandten des Mannes, die ihm von Österreich aus und in gebrochenem Deutsch erklärte, der Pensionsbesitzer sei aktuell 300 Kilometer entfernt und habe Harnisch' Wäsche mitgenommen.
"Soll ich also morgen nackt radeln?" – fragte Harnisch und konnte mit etwas Beharrlichkeit bewirken, dass der Mann samt der Wäsche noch in der Nacht zurückkam. "Ich weiß bis heute nicht, was das sollte. Ich glaube, er hatte vielleicht die Tüten mit der Wäsche verwechselt." Gewaschen und trocken war die Kleidung jedenfalls.
Harnisch nimmt es im Nachhinein als amüsante Anekdote, doch auch ernste Töne bleiben. In Anatolien reihten sich zum Beispiel plötzlich links und rechts der Straße Zelte aneinander. Auf einer Strecke von rund 20 Kilometern. Wie er in Erfahrung brachte, sind in diesem Lager syrische Flüchtlinge untergebracht. Die Türkei hat rund 3,4 Millionen Menschen aus dem Bürgerkriegsland aufgenommen. Ja, diese Not gibt es auch noch.
Nach seiner Rückkehr nach München: Peter Harnisch möchte Vorträge über seine Reise halten
All diese Eindrücke muss Harnisch nun verarbeiten, ein paar freie Tage hat er am Zielort eingeplant. Zum Beispiel für Spaziergänge am endlosen und einsamen Strand von Samandag bei bis zu 26 Grad Wassertemperatur. Am Sonntag ging sein Rückflug.
Mit dem Rad an Bord und Erinnerungen und Erkenntnissen im Kopf. Peter Harnisch hat vor seiner Reise Franz Werfels "Die Vierzig Tage des Musa Dagh" gelesen und möchte es Interessierten ans Herz legen. In den nächsten Monaten will Harnisch in München und andernorts auch Vorträge über seine Reise halten.
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