Wie die Bluterkrankheit Hämophilie B Träume zerstört – und warum eine neue Gentherapie Hoffnung macht
Eine neuartige Gentherapie hat die Lebensqualität von Seyed Shaddel eindeutig verbessert. Dennoch können Ärztinnen und Ärzte diese bis heute nicht verordnen. Zu teuer, meinen die Kostenträger. Seyed Shaddels behandelnder Arzt PD Dr. med. Robert Klamroth kommt zu einem ganz anderen Ergebnis.
Leben mit Hämophilie B: Seyed Shaddels Geschichte
"Ich war ein begeisterter Fußballspieler und auch ziemlich talentiert.“ Wenn Seyed Shaddel aus seiner Zeit in der Jugendmannschaft erzählt, tut er das mit reichlich Wehmut. Seyed Shaddel, 34, hat die Bluterkrankheit Hämophilie B. Hätte er diese chronische Erkrankung nicht, würde er jetzt womöglich von seiner langen Karriere als Fußballprofi erzählen. Stattdessen berichtet er, wie er diesen Traum frühzeitig begraben musste: "Im Alter von 15 Jahren musste ich das Fußballspielen aufgeben, weil ich oft Probleme mit Einblutungen in die Fußgelenke hatte. Die Auswirkungen spüre ich noch heute.“
Bluterkrankheit: Auch die wöchentlichen Infusionen belasten
Seyed Shaddel ist im Laufe der Jahre selbst zum Experten für Hämophilie geworden. Er erklärt, warum in der Therapie der Bluterkrankheit die wöchentlichen Infusionen bis heute unverzichtbar sind: "Bei unserer Krankheit ist es so, dass uns ein Gerinnungsfaktor fehlt, und den müssen wir ersetzen, um nicht zu verbluten, wenn es zu einer Verletzung kommt.“ Als Gerinnungsfaktoren werden spezielle Proteine bezeichnet, die für die Blutgerinnung unerlässlich sind und die bei Menschen mit Hämophilie fehlen. Mit "ersetzen“ meint Seyed Shaddel ganz einfach: spritzen. Ab einem gewissen Alter setzen sich die Patienten die Spritzen in der Regel selbst, ansonsten säßen sie gefühlt ständig beim Arzt.
PD Dr. med. Robert Klamroth ist Seyed Shaddels behandelnder Arzt und Chefarzt der Klinik für Angiologie und Hämostaseologie am Berliner Vivantes Klinikum im Friedrichshain. Zu ihm kommen leidgeprüfte Patienten wie Seyed Shaddel, die von Geburt mit der chronischen Erkrankung Hämophilie leben müssen. Abhängig vom Schweregrad der Erkrankung könne es laut Dr. Klamroth etwa nach Verletzungen oder Operationen zu äußeren Blutungen, vor allem aber auch zu inneren Blutungen kommen. "Das ist besonders gefährlich für die Gelenke“, so der Spezialist.

Diese typischen Einblutungen ließen Seyed Shaddels Traum vom Profifußball frühzeitig platzen. Dennoch sitzt hier kein trauriger oder gar verbitterter Mann am Küchentisch. Im Gegenteil: Seyed Shaddel hat vor Kurzem geheiratet, er lacht viel, blickt optimistisch in die Zukunft. Der IT-Techniker aus Berlin wirkt sogar, als sei er kürzlich von einer großen Last befreit worden. Seyed Shaddel stimmt zu: "Die Gentherapie hat bei mir bestens funktioniert. Das ist jetzt eine ganz andere Lebensqualität.“
EU-Zulassung: Einmalige Gentherapie als Therapiealternative zur wöchentlichen Infusion
Seyed Shaddel und Dr. Klamroth sehen sich inzwischen sehr viel seltener als früher. Es gibt einfach nicht mehr so viel Bedarf für Kontrolltermine wie noch vor einigen Jahren. "Seit dem 20. Januar 2020 muss ich mir keine wöchentlichen Spritzen mehr setzen“, freut sich Seyed Shaddel.
Seyed Shaddel war 2020 einer von weltweit 54 Patienten mit Hämophilie B, die die neue Gentherapie im Rahmen einer klinischen Studie erhielten. PD Dr. med. Robert Klamroth: "Die bislang in klinischen Studien erfolgreich behandelten Patienten sind durch die Gentherapie in der Mehrheit jetzt seit Jahren blutungsfrei und benötigen keine andere Therapie mehr.“
Anfang 2023 wurde die Gentherapie in der Europäischen Union zugelassen. Doch bis heute hat sie außerhalb von Studien noch kein Patient in Deutschland erhalten. Der vermeintlich hohe Preis der Einmalinfusion schreckt die Kostenträger ab. Aber: Stellen sich die zahlenden Krankenkassen mit den Einmalkosten für die Gentherapie tatsächlich schlechter als mit den Kosten für die wöchentliche Infusion? Dr. Klamroth rechnet vor: "Die wöchentlichen Spritzen kosten jährlich bis zu 300.000 Euro. Nach zehn Jahren hat sich das amortisiert."
Im Grunde also eine einfache Rechnung, zumal der Hersteller der Gentherapie den Kassen einen Finanzierungsvorschlag in Form einer Ratenzahlung unterbreitet hat. "Solange die Patienten nach Gabe der Gentherapie keine weiteren Behandlungen mit Faktor IX mehr benötigen“, erläutert Dr. Klamroth das Prinzip, "zahlen die Kassen jedes Jahr den Betrag, den sie sonst für die Faktor-IX-Gaben ausgeben würden.“
Allerdings mit dem Unterschied, dass mit der Ratenzahlung nach gut zehn Jahren Schluss ist, während die wöchentlichen Infusionen mit dem Gerinnungsfaktor IX ein Patientenleben lang bezahlt werden müssen. Eine Entscheidung bezüglich des vorgeschlagenen Finanzierungsmodells steht noch aus. Derweil ist Seyed Shaddel froh, dass er nicht mehr auf die wöchentlichen Spritzen angewiesen ist.
Das ist Hämophilie
Hämophilie ist eine Erbkrankheit, die fast nur Männer betrifft. Bei Patienten mit Hämophilie kommt es bei unzureichender Therapie zu unkontrollierten Blutungen. Oft sind die Gelenke von Einblutungen betroffen, beim jungen Fußballer Seyed Shaddel waren es vor allem die Fußgelenke. Lebensgefährlich wird die Bluterkrankheit beispielsweise bei Hirnblutungen und bei Verletzungen, wenn die Wunde nicht aufhört zu bluten. Mit wöchentlichen Infusionen kann den schwerwiegendsten Krankheitsfolgen zwar effektiv vorgebeugt werden. Ein Leben ohne Einschränkungen bedeutet das aber nicht, wie Seyed Shaddel im Interview immer wieder bestätigt.
Fast die Hälfte der jungen Erwachsenen mit Hämophilie berichtet von Ängsten und/oder Depressionen, denn im Alltag ist die Erkrankung jederzeit präsent. Einen bedeutenden Faktor für die psychische Belastung können die wöchentlichen Infusionen darstellen. Denn spätestens, wenn die jungen Patienten in die Pubertät kommen, erinnern diese Infusionen beständig daran, nicht so frei zu sein wie die anderen.
Das ist die neue Therapie
Die neue Therapie mit dem Gentherapeutikum Etranacogene Dezaparvovec zielt darauf ab, einen Gendefekt zu korrigieren: Bei der Hämophilie B fehlt aufgrund dieses Defekts der körpereigene Gerinnungsfaktor IX, der für die Blutgerinnung unerlässlich ist. Nach nur einer Infusion kann dieser Gerinnungsfaktor in der Leber produziert und in das Blut abgegeben werden. Die für die Zulassung der Gentherapie ausschlaggebenden klinischen Studien haben gezeigt, dass die Produktion des Gerinnungsfaktors in der Leber monate- oder sogar jahrelang anhält. Alle Behandelten werden 15 Jahre lang nachbeobachtet, um die langfristige Wirksamkeit und Sicherheit der Gentherapie zu kontrollieren. 96 Prozent der Studienteilnehmer waren nach der Gentherapie nicht mehr auf die vorher notwendigen Infusionen angewiesen.
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