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"Sonst macht es ja keiner": Gehörlose Politikerin Julia Probst will in den Landtag in Bayern

In der AZ-Serie über etwas ungewöhnliche Landtagskandidaten stellen wir Julia Probst von den Grünen vor. Warum sie die Bürokratie mehr stört als ihre Gehörlosigkeit und warum sie dennoch oder trotzdem in die Politik will.
Heidi Geyer |
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Julia Probst unterhält sich in Gebärdensprache.
Julia Probst unterhält sich in Gebärdensprache. © Foto: Probst

München/Neuulm - Politiker wollen, müssen sich sogar Gehör verschaffen. Und immer wieder heißt es, wie wichtig es ist, Menschen zuzuhören, um ihre Sorgen zu verstehen. Wie aber macht man Politik, wenn man selbst gehörlos ist?

Für Julia Probst (41) aus Neu-Ulm stellt sich diese Frage nicht. Sie macht es einfach. Für die Grünen kandidiert sie erstmals für die Landtagswahl. "Als gehörlose Person will ich die Interessen aller Menschen vertreten, egal ob nichtbehindert oder behindert - sonst macht es ja keiner bei Menschen mit Behinderungen", sagt Probst im Gespräch mit der AZ.

Bekannt wurde Julia Probst als Lippenleserin bei Fußballspielen

Auch für die Redakteurin ist das Interview eine neue Situation. Denn wie kommuniziert man mit jemandem, der nicht hören kann? Das funktioniert relativ einfach. Über eine Hotline wird eine Gebärdendolmetscherin zugeschaltet, die für Julia Probst übersetzt. Ein bisschen ungewohnt ist das schon – wann macht man eine Pause, wie baut man eine Gesprächsatmosphäre auf? Doch Julia Probst scheint ohnehin jemand zu sein, der schnell auf den Punkt kommt.

Viele Menschen kennen Probst aus einem ganz anderen Kontext: Für einen Fernsehsender las sie die Lippen von Trainern und Spielern bei Fußballspielen. Dadurch wurde sie bekannt, unter anderem durch Twitter (heute X). "Ich muss da ehrlich zugeben, dass Corona meine Beziehung zum Fußball verändert hat und ich nicht mehr so der leidenschaftliche Fußballfan bin wie früher", sagt Probst. Heute arbeitet sie als PR-Referentin.

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Obwohl sie gehörlos zur Welt kam: Julia Probst wuchs ohne Gebärdensprache auf

Probst selbst ist gehörlos auf die Welt gekommen. "Ich bin aber ohne Gebärdensprache aufgewachsen", sagt Probst. Erst mit 17 Jahren habe sie Gebärdensprache gelernt. Denn in den 1980er Jahren galt die Gebärdensprache eher als hinderlich für die Entwicklung. Daher habe sie lange Zeit von den Lippen abgelesen, "irgendwie habe ich das halt geschafft". Sie sei auch auf eine "normale" Regelschule gegangen.

Probst findet es auch ein bisschen schade, dass ihre Familie keine Gebärdensprache erlernt hat. Den Vergleich kann sie heute ziehen, da sie selbst Mutter ist. Ihr Kind ist hörend, sie erzieht es aber mit Gebärdensprache. "Der Kindergarten sagt, dass das Kind einen großen Wortschatz habe und seinem Alter weit voraus sei", erzählt Probst im Gespräch mit der AZ. Für sie liegt der Grund in der Gebärdensprache.

Die Bürokratie macht die Suche nach einer Gebärdendolmetscherin schwierig

Probst selbst sieht einerseits die Barrieren ihrer Gehörlosigkeit, sieht aber auch die Vorteile. Die Regeln der UN-Behindertenkonvention seien zwar einerseits klar, aber in der Praxis sieht die Lage laut Probst anders aus. Die Verantwortung werde teils hin und hergeschoben. Da fühle sie sich dann doch wieder persönlich behindert.

Wer die Gebärdendolmetscherin beim aktuellen Telefonat bezahle? Einen Teil zahlen die Betroffenen, einen Teil zahle die Bundesnetzagentur ergänzt die Dolmetscherin. Allein 40 Seiten waren es beim Antrag für das persönliche Budget. Was Probst besonders stört: "Bayern fragt nach Vermögen und Ausbildung – das ist aber gesetzeswidrig."

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Julia Probst (Grüne) will den Verwaltungsakt verbessern

Diese Daten sind aus Sicht von Probst tabu und haben nichts mit ihrem Recht auf Inklusion zu tun. "Warum reicht es nicht aus, dass ich meinen Schwerbehindertenausweis und die Steuerbescheide zeige?", fragt Probst. Es sei einfach viel zu viel Bürokratie, das wisse sie auch von anderen Betroffenen. "Mein Ziel ist es, den Verwaltungsakt zu verbessern", sagt Probst. "Das geht schon zuhause bei der Blitzlichtklingel los und geht bei Rauchmeldern und Hörgeräten weiter."

Politiker können sich nicht vorstellen, was die Bürokratie für die Betroffenen kaputtmache. "Es ist ja auch für beide Seiten einfacher, wenn ein Gebärdendolmetscher da ist", sagt Probst. Derzeit müsse man aber bis zu zwei Monate auf einen Dolmetscher warten, unter anderem wegen Ferien oder Elternzeit.

Horst Seehofer wollte Bayern bis 2023 barrierefrei machen

Sollte es mit dem Landtag klappen, würde sie erst mal bei Horst Seehofer anknüpfen. Denn der habe gesagt, Bayern werde bis 2023 barrierefrei. "Jetzt ist 2023 und Bayern ist aber nicht barrierefrei", sagt Probst. Dass die öffentliche Kommunikation barrierefrei wird, aber auch dass Ärztehäuser leichter zugänglich werden.

In ganz Deutschland gibt es Probst zufolge nur drei gynäkologische Praxen, die für Rollstuhlfahrerinnen zugänglich sind. Denn allein mit dem Aufzug sei es nicht getan, oft gebe es noch zusätzliche Stufen oder eben Behandlungsstühle, die schlicht nicht geeignet sind. Sorge macht Probst außerdem, dass es zu wenige barrierefreie Wohnungen gebe. Das sei besonders angesichts des demografischen Wandels schwierig.

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Julia Probst ist sich sicher, die Wähler richtig zu erreichen

Politik lebt von der Inszenierung und vom Auftritt. Markus Söder (CSU) und Hubert Aiwanger (Freie Wähler) übertrumpfen sich derzeit nahezu mit den Auftritten im Bierzelt. Und auch Probsts grüne Kandidatenkollegen touren durch ihre Stimmkreise. Die 41-Jährige schließt sich an – trotz Behinderung. "Ich war in der vergangenen Woche in Donauwörth auf einer großen Wahlkampfveranstaltung", erzählt Probst.

Weil kein Dolmetscher dabei war, habe sie selbst versucht langsam und deutlich zu sprechen. "Ich habe aber die Personen trotzdem so richtig erreicht", sagt Probst. Ihr Eindruck sei gewesen, dass dieser "Umstand" das Interesse der Leute an ihr erst geweckt hatte: "Im Alltag hat man ja solche Begegnungen nicht."

AfD-Anhänger stören Wahlkampf-Auftritt von Julia Probst: "Klar, dass die Theater machen"

Aber klar: "Mit Dolmetschern wäre der Energieaufwand weniger hoch für mich gewesen. Für mich ist das ein bisschen so, als hätte man Scheuklappen." Sie könne dadurch einfach nicht so auf das Publikum eingehen wie andere Kandidaten. "Da bin ich im Nachteil." Probst sieht trotzdem auch Vorteile.

Bei einer Veranstaltung mit Toni Hofreiter in Elchingen traten AfD-Anhänger als Störer auf. "Mir war klar, dass die Theater machen", sagt Probst. Sie habe dann einfach erklärt, dass sie gehörlos sei und die Zwischenrufe gar nicht wahrnehmen kann. "Da hab ich gesagt, da könnt' ihr es gleich ganz lassen!"

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Geht das überhaupt im Landtag, dass eine Gehörlose dort im Plenum spricht? Sollte Probst in den Landtag kommen, würde die Verwaltung sich laut Sprecherin Caroline Kubon direkt mit der gehörlosen Abgeordneten abstimmen. Denn noch gebe es keinen Prozess. Immerhin: "Die Plenarsitzungen werden schon jetzt standardmäßig auch mit einem Gebärdendolmetscher im Livestream übertragen", sagt Kubon der AZ.

Bis die Inklusion in der Politik funktioniert, ist es noch ein weiter Weg

Klärungsbedarf wird es jedoch noch jede Menge geben. Da ist besonders ein Punkt, der Probst stört. Deutschland habe bei der Staatenprüfung auf die Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention zum Engagement von Gehörlosen in der Politik gesagt, man sei dafür, dass die Parteien die Kosten für die Gebärdensprachdolmetscherinnen übernehmen. Für Probst "ein Unding!"

Auch für die AZ-Redakteurin ist es gar nicht so leicht, mit Probst ein Interview zu führen. Bei der schriftlichen Autorisierung, also der Freigabe von Zitaten von Probst per E-Mail, zeigt sich, dass zahlreiche Missverständnisse bei der Übersetzung aufgekommen sind. Und das Gespräch endete auch abrupt: Die Dolmetscherin war zu erledigt. Bis die Inklusion auch in der Politik funktioniert, ist es wohl noch ein weiter Weg. Julia Probst möchte ihn dennoch gehen.

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5 Kommentare
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  • Der wahre tscharlie am 25.09.2023 18:38 Uhr / Bewertung:

    Mutig. Und dieser Mut sollte belohnt werden:
    Aber bei Gehörlosen und Gebärdensprache ist Bayern, bzw. Deutschland sowieso rückständig.
    Andere Länder sind da schon viel weiter. Wenn dort Politiker reden, oder sonst irgendetwas wichtiges in den Medien mitgeteilt wird, ist immer ein Gebärdensprecher anwesend.

    Aber ich höre schon die stereotypischen Bemerkungen von Politikern.....wer bezahlt die Gebärdensprecher und im Landtag würde sowas nur die Entscheidungsprozesse verlangsamen.

    Und diese Aussage sagt schon alles: "Allein 40 Seiten waren es beim Antrag für das persönliche Budget. Was Probst besonders stört: "Bayern fragt nach Vermögen und Ausbildung – das ist aber gesetzeswidrig."

  • Witwe Bolte am 25.09.2023 16:35 Uhr / Bewertung:

    Vielen Gehörlosen kann man mit einem Cochlea-Implantat helfen. Günther Beckstein hat so etwas.
    Manche Gehörlose (bzw. deren Eltern) lehnen das jedoch ab, weil es einen Eingriff im Hirn bedeutet.

  • Boettner-Salm am 25.09.2023 13:17 Uhr / Bewertung:

    Ich wünsche der Dame recht viel Glück!

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