Macht und Maßkrüge: Warum die Wiesn in München trotz Neutralität so politisch ist
München – Es ist ein Triumphzug für den Bayern. Mehrfach brandet Jubel im Schottenhamel-Zelt auf, als CSU-Mann Edmund Stoiber endlich erscheint. Zeltbesucher stehen auf den Bänken und rufen: "Du machst es, Edi!", während vor der Festhalle Betrunkene Slogans wie "Stoiber vor, noch ein Tor" grölen. Genüsslich trinkt der damalige Kanzlerkandidat der Union seine schäumende Maß, die ihm der ebenfalls mit Applaus bedachte Münchner Oberbürgermeister Christian Ude (SPD) frisch eingeschenkt hat. Es ist der 21. September 2002, Oktoberfest-Anstich.
Da sind Stoiber und die Union nur noch einen Tag von der schmachvollen Niederlage bei der Bundestagswahl entfernt. Noch wird er bejubelt. Die Größen des Berliner Politikbetriebs wie die Grüne Claudia Roth, der damalige Bundesinnenminister Otto Schily (SPD) und selbst die spätere Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) werden derweil mit Pfiffen bedacht.

"Politikerreden sind auf dem Oktoberfest verboten": Wiesn soll nicht zum Spielball werden
Die damalige Ankündigung der Stadt, die Wiesn sei auch im Schicksal-Wahljahr 2002 "politikfreie Zone", entpuppte sich angesichts des Stoiber-Auftritts als Makulatur.
Dennoch wurden und werden Stadt und Festwirte bis heute nicht müde, zu beschwören, dass die Wiesn frei von Politik zu halten sei. "Parteiveranstaltungen und Politikerreden sind auf dem Oktoberfest per se verboten", betont man beim zuständigen Wirtschaftsreferat. Bis heute gibt es auch keine Übertragungen von Wahlsendungen.
Groß ist nicht nur die Angst vor Raufereien zwischen Anhängern der politischen Lager. Die Wiesn dürfe kein "Spielball der politischen Interessen sein", sagt Wirtschaftsreferent Clemens Baumgärtner der AZ. "Unser Fest ist kein Gillamoos oder ein Fernsehstüberl, in dem sich Politiker in Szene setzen", sagt der CSU-Politiker.
Die Stadt München lud ihn wieder aus: Seehofer wollte die Wiesnkapellen dirigieren
Und so dürfte die Wiesn wohl das einzige Bierzelt Bayerns sein, in dem Ministerpräsident Markus Söder in diesem Jahr keine politischen Reden halten wird, witzelt man im Rathaus. Wobei der fränkische CSU-Mann sicher nicht versäumen wird, den Anstich für schöne Fotos zu nutzen – das Gute: Dem Steuerzahler könnte das sogar Geld sparen, weil Pressefotos anders als PR-Bilder für das Objekt in der Linse kostenfrei bleiben.
Alle Jahre wieder zeigt die Stadt Politikern, die die Wiesn allzu schamlos für sich nutzen wollen, allerdings die Rote Karte. Als etwa der damalige CSU-Ministerpräsident Horst Seehofer 2010 zum 200. Jubiläum das Standkonzert der Wiesnkapellen dirigieren sollte, wurde er auf Betreiben der Stadt wieder ausgeladen.

Wahlplakate vor der Theresienwiese: "Politiker haben das Potenzial der Wiesn längst erkannt"
Dass nur wenige Meter von der Theresienwiese entfernt auch in diesem Wahljahr wohl so viele Wahlplakate wie wohl nirgendwo sonst in der Stadt hängen, kann die Stadt jedoch nicht verhindern. Auch das Oktoberfest selbst ist entgegen aller Beteuerungen seit jeher hochpolitisch. "Die Politiker haben das Potenzial der Wiesn längst erkannt – das Oktoberfest ist ja ein 16 Tage währender Stammtisch, an dem heftiger diskutiert wird als in jedem Parlament", schrieb die "Süddeutsche Zeitung" einmal.
Politik und Bier bilden in Bayern von jeher eine Symbiose. Und was auf jedem Frühschoppen beim Dorffest gilt, gilt eben erst recht auf der Wiesn: Es wird vor der Kamera inszeniert, die Presse über das private Familienglück informiert und am Biertisch fleißig intrigiert.
Alt-OB Christian Ude wurde bei seinem Wiesn-Einstand gnadenlos ausgebuht
Doch nicht jeder Auftritt ist ein glorreicher Triumphzug. Der frischgebackene Münchner OB Ude beispielsweise hätte die Festlichkeiten 1993 kurz nach seinem Sieg über den christsozialen Herausforderer Peter Gauweiler wohl gerne als strahlender Held begangen.
Er wurde aber schon bei seinem ersten Anstich von dem in weiten Teilen CSU-nahen Publikum im Schottenhamel-Zelt ausgebuht. Ude soll über das Pfeifkonzert Zeitungsberichten zufolge so sauer gewesen sein, dass er in Erwägung zog, den Anstich künftig an ein anderes Zelt zu vergeben. Der OB bestritt diese Darstellung allerdings stets.

Von Beginn an war das Oktoberfest auch Spielwiese der Mächtigen: Am 12. Oktober 1810 heiratete Kronprinz Ludwig Therese von Sachsen-Hildburghausen. Zum Abschluss der Hochzeitsfeierlichkeiten wurde ein fünftägiges Pferderennen vor den Toren der Stadt veranstaltet. Die Wittelsbacher bedankten sich mit Bier, Brotzeit und Spielen beim Volk, das zuvor einige Kriege verkraften musste.
Früher führte die Erhöhung der Bierpreise auf dem Oktoberfest zu Volksaufständen
"32.000 Mass Bier" und 16.000 Portionen Braten wurden damals an die Festgäste verteilt. Das berichtete damals die "Allgemeine Zeitung". Die Feier hatte eine immense identitätsstiftende Wirkung für die noch junge bayerische Monarchie. Es sollte, so der Plan des Hochadels, helfen, die neuen Untertanen aus Schwaben und Franken auf die Residenzstadt München einzuschwören.
Mit Erfolg: Rasch avancierte das Oktoberfest in den Folgejahren zur Pilgerstätte von Menschen aus allen Winkeln Bayerns. Beim weiß-blauen Großereignis ließ sich der spätere Monarch Ludwig I. schon früh im sogenannten Königszelt von der Bevölkerung bejubeln.
Im späten 19. Jahrhundert führten Bierpreiserhöhungen in München zu regelrechten Volksaufständen. In der von Straßenschlachten geprägten Weimarer Republik war die Wiesn dagegen eher ein Quell der Ruhe. "Das Oktoberfest wurde damals nicht als Veranstaltungsort genutzt", so der frühere Wiesn-Experte des Münchner Stadtmuseums Florian Dehring 2013 im "Spiegel".
Die Nationalsozialisten inszenierten die Wiesn als "Großdeutsches Volksfest"
Unter der Herrschaft des NS-Regimes stand das Oktoberfest dann komplett im Zeichen der braunen Propaganda. Bereits 1933 hatte das Regime den Preis für die Maß Bier auf 90 Pfennig festgesetzt, um sich so als Freund des "arbeitenden Volkes" zu gebärden.
Viele NS-Größen nutzten die Wiesn, um ihre angebliche Volksverbundenheit zu zeigen: Der spätere Hitler-Stellvertreter Hermann Göring aß bei einem Auftritt zunächst öffentlichkeitswirksam einen Steckerlfisch, um dann in einem Bierzelt Brezn und Schokoherzen an jubelnde Kinder zu verteilen. 1938 dann erreichte die Instrumentalisierung des Oktoberfests durch die Nazis ihren Höhepunkt: Es hieß nun "Großdeutsches Volksfest".
Thomas Wimmer brauchte 19 Schläge für den Fassanstich, Erich Kiesl vergaß das "O'zapft is!"
Hatte die Wiesn im Nachkriegsdeutschland zunächst einen eher apolitischen Charakter, verstand das neue Establishment schon bald, das Fest für sich zu nutzen.
Vor allem bei der Eröffnung im September setzen sich die politischen Spitzen gekonnt in Szene: TV-tauglich fahren zunächst der Münchner OB und seine Frau auf blumengeschmückten Kutschen auf die Festwiese, anschließend der Ministerpräsident samt Gattin.
Auch der Anstich des ersten Wiesn-Fasses befindet sich fest in der Hand der politischen Elite.

Hielt Alt-OB Thomas Wimmer (SPD) den Schlegel noch falsch herum und brauchte deshalb sage und schreibe 19 Schläge für das Öffnen des Fasses, schaffte es Ude 2005 bereits mit zwei. Auch wenn es lange keiner der Stadtoberhäupter zugab, so trainierten die Oberbürgermeister doch stets in gut versteckten Kellern der Brauereien das Anzapfen.
Viel medialen Spott erntete Ende der siebziger Jahre der damalige CSU-Rathauschef Erich Kiesl: Er vergaß im Eifer des Gefechts bei einem Anstich glatt das obligatorische "O'zapft is!".
Ricarda Lang und Katharina Schulze ohne Maske: Grüne müssen sich Doppelmoral vorwerfen lassen
Auch Politikerinnen nutzen die Ratsboxen gerne als medialen Catwalk: Die frühere FDP-Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger und die Ex-Familienministerin Renate Schmidt (SPD) waren viele Jahre Stammgäste. Traditionelle Kleidung ist aber Pflicht: Selbst frühere Polit-Rebellinnen wie Grünen-Chefin Claudia Roth tragen Dirndl.

Für Roth und die Grünen-Bundesvorsitzende Ricarda Lang dürfte eine gemeinsame Maß beim Wiesnbesuch mit Bayerns Grünen-Führungsduo Katharina Schulze und Ludwig Hartmann im vergangenen Jahr allerdings einen faden Beigeschmack gehabt haben.
Vor allem Lang und Schulze mussten sich Doppelmoral vorhalten lassen, weil sie sich ohne Maske im gerammelt vollen Schottenhamel-Festzelt ablichten ließen. Schließlich hatten beide die Monate zuvor ein ums andere Mal, die Bevölkerung ermahnt, in Innenräumen wegen des Corona-Risikos Masken zu tragen.
Zuletzt gab es Diskussionen um rassistische und sexistische Bilder auf dem Oktoberfest
Nicht einfach hatte es Franz Josef Strauß auf dem Oktoberfest. Der frühere bayerische Ministerpräsident ließ sich zwar laufend mit Maßkrug ablichten. Doch er war in Wahrheit leidenschaftlicher Weintrinker.
Extra für ihn fand sich allerdings eine Lösung: Die CSU-Ikone soll, wie die AZ vor Jahrzehnten zum Unmut der Staatsregierung einmal berichtete, nach seinen Abenden auf dem Oktoberfest gerne noch ein paar Bocksbeutel im Wiesn-Büro des Hofbräuzelts getrunken haben. Er sei erst gegangen, als das letzte Fläschchen leer war.

Dass die Wiesn in der Praxis nicht unpolitisch ist, weiß man auch bei der Stadt. "In der Praxis politisiert sie natürlich", sagt Wirtschaftsreferent Baumgärtner. Bestes Beispiel sei der Streit, ob historische Malereien an Fahrgeschäften aufgrund von Sexismus- oder Rassismus-Vorwürfen entfernt werden müssen.
Die Wiesn in München sorgte für Platzangst beim König von Malaysia
Manche politisch bedeutsame Entscheidung dürfte in den Wiesn-Boxen gefallen sein. "Denn nirgendwo lösen sich Zungen so leicht", konstatierte die "Bunte" einmal treffend. Und so wundert es nicht, dass Bayerns Herrscherkaste in der Vergangenheit so manchen ausländischen Staatsgast auf die Festwiese schleppte. Darunter auch Exoten wie Punsalmaagiin Otschirbat.
Im Schottenhamel staunte der frühere Staatschef der Mongolei Mitte der neunziger Jahre über bayerisches Brauchtum, bevor der Asiate anschließend mit einem Minister über die wirtschaftlichen Beziehungen beider Länder plauderte.
Wenig begeistert war Syed Sirajuddin vom größten Volksfest der Welt: Aus Platzangst verließ der damalige malaysische König 2005 das Hofbräuzelt bereits nach 15 Minuten. Später bedankte er sich bei den Münchnern dafür, dass er den Abend überlebt hatte.