Kita-Situation in München und Bayern angespannt: "Wird sich eklatant verschärfen"

In Bayern fehlen 70.000 Betreuungsplätze für Kinder, hat eine Stiftung errechnet. In München, wo das Leben teuer ist, schlägt das besonders durch. Der Fachkräftemangel macht sich doppelt bemerkbar.
Bernhard Hiergeist |
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An Räumen für Kinder mangelt es in München kaum. Schwieriger ist es, sie mit Personal zu füllen.
An Räumen für Kinder mangelt es in München kaum. Schwieriger ist es, sie mit Personal zu füllen. © Sigi Müller augenblick-fotografi

München - Woran erkennt man, dass sich das Jahr dem Ende zuneigt? An Glühwein, Plätzchen, Trubel oder Radios, die "Last Christmas" dudeln? Sicherlich auch – aber für viele Familien mit Kindern ist meist noch etwas anderes entscheidend. Dann nämlich nähert sich Weihnachten, wenn in den Krippen, Kindertagesstätten und Kindergärten wieder Aushänge gemacht werden: Achtung! Mehrere Fälle von Magen-Darm-Grippe. Vorsicht! Bindehautentzündung geht um. Und wenn in Eltern-Whatsapp-Gruppen gebeten wird, die Kleinen doch bitte früher abzuholen. Oder, wenn möglich, gar nicht erst zu bringen.

Öffnungszeiten verkürzen, Gruppen zusammenlegen und auf viel guten Willen setzen: Wie fragil und auf Kante genäht die Situation der Kinderbetreuung in München ist, erkennt man besonders gut im Herbst und Winter, wenn Erzieherinnen und Betreuer häufiger krank werden. Generell fehlen in Bayern rund 70.000 Kitaplätze. Das hat die Bertelsmann-Stiftung für ihr aktuelles "Ländermonitoring Frühkindliche Bildungssysteme" errechnet.

Trotz 200.000 neuer Betreuungsplätze: In Bayern und München fehlen Zehntausende Kitaplätze

Laut dem Bayerischen Landesamt für Statistik sind in den vergangenen zehn Jahren zwar fast 200.000 zusätzliche Betreuungsplätze in Bayern entstanden. Trotzdem übt die Bertelsmann-Veröffentlichung scharfe Kritik. "Bayern kann den Rechtsanspruch auf einen Kitaplatz nach wie vor nicht bedarfsgerecht erfüllen", sagt Kathrin Bock-Famulla, Bildungsexpertin und Autorin des aktuellen Monitorings. "Die Kinder bekommen keinen Zugang zu frühkindlicher Bildung, während die Eltern Familie und Beruf schwieriger vereinbaren können." Eine enorme Belastung für Familien, zumal in München, wo das Leben teuer ist und Familien oft darauf angewiesen sind, dass beide Elternteile arbeiten.

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Zur Erinnerung: Seit 2013 haben Kinder ab einem Jahr einen gesetzlichen "Anspruch auf frühkindliche Förderung in einer Tageseinrichtung oder in Kindertagespflege", so steht es in Paragraph 24 des achten Buchs des Sozialgesetzbuchs. Eine sinnvolle Maßnahme, findet man etwa bei der Industrie- und Handelskammer (IHK) in München. Die Steigerung der Erwerbstätigkeit sei eines "der wichtigsten Instrumente gegen den Arbeitskräftemangel, der sich in den kommenden Jahren aus demografischen Gründen noch eklatant verschärfen wird", schreibt die IHK auf AZ-Anfrage. Dafür sei eine "flächendeckende, verlässliche und kostengünstige Ganztagesbetreuung für Kinder bis 12 Jahren" dringend notwendig.

Es hat sich viel getan bei der Versorgung

Kostengünstig mag sein. Aber flächendeckend oder verlässlich? Daran kann man heute zweifeln – und zweifelte man auch schon vor zehn Jahren, woran kürzlich die Landesverbände der Kita-Fachkräfte in einer gemeinsamen Erklärung erinnerten. "Wir können unserem gesetzlichen Auftrag nur sehr eingeschränkt nachkommen", kritisieren die Verbände darin und schreiben lapidar: "Für Kinder und Kita-Fachkräfte ist die Kita-Welt nicht in Ordnung." 

Sebastian Weisenburger ist Fraktionsvorsitzender der Grünen im Münchner Stadtrat und weiß um den großen Platzbedarf. Aber er weiß auch, dass sich die Betreuungssituation im Schnitt verbessert hat. Im Jahr 2000 gab es in München weniger als 5.000 Krippenplätze und etwa 28.000 Kindergartenplätze. 2023 sind es dagegen 26.000 Krippenplätze und mehr als 50.000 Kindergartenplätze. "Es hat sich gehörig was getan", sagt Weisenburger im Gespräch mit der AZ, "aber das zu wissen nutzt natürlich keiner Familie, die gerade keinen Platz für ihr Kind findet".

Tag der offenen Tür in den mehrsprachigen Kinderbetreuungseinrichtungen (Symbolbild).
Tag der offenen Tür in den mehrsprachigen Kinderbetreuungseinrichtungen (Symbolbild). © dpa

Der Versorgungsgrad in München beträgt bei den Kindergartenkindern fast 100 Prozent. Das heißt, dass so gut wie alle Kinder im Kindergartenalter auch einen solchen besuchen. Die Krux liegt bei den 1-3-Jährigen. Laut Stadt lag dieser im September 2023 lag dieser bei 78 Prozent. Die Zahl sagt aber nichts darüber aus, ob der Rest keinen Platz gefunden oder keinen gesucht hat. Und ebenso wenig lässt sich daraus ablesen, wie häufig Einrichtungen Probleme wegen Personalknappheit haben.

"Das Fatale ist ja, dass es wahrscheinlich genug Plätze für alle gäbe", sagt Ursula Baumgartner, die Vorsitzende vom Verein KleinKinderTagesstätten (KKT), einem Zusammenschluss Münchner Elterninitiativen. "Aber man kann die Plätze gar nicht belegen, weil es nicht genug Personal gibt", sagt Baumgartner der AZ. Ähnlich sieht es Weisenburger von den Grünen: "Es ist generell leichter, Räume für neue Kitas zu finden als Erzieherinnen und Erzieher", sagt er.

"Masse statt Klasse" beim Kita-Ausbau?

Um zu vermeiden, dass Eltern vor Gericht einen Platz einklagen, habe man "Masse statt Klasse" geschaffen, mahnen die Kita-Fachkräfte in ihrer Mitteilung an. Immer mehr Einrichtungen wurden von Kommunen oder gemeinnützigen Trägern hochgezogen, die dann mit privaten Häusern oder Betriebskitas um Personal konkurrierten. Je mehr Einrichtungen gebaut wurden, umso größer wurde also die Personalknappheit. In der Logik der IHK: Genau die Fachkräfte sind knapp, die dafür sorgen sollen, dass der Fachkräftemangel nicht zu groß wird.

Eine Situation, auf die die Stadt reagiert habe, erklärt Weisenburger. "Wir haben die Ausbildungskapazitäten in den vergangenen Jahren massiv nach oben geschraubt." Doch eine Ausbildung dauere natürlich ihre Zeit. "Der Effekt wird sich erst in ein paar Jahren bemerkbar machen." Und noch mehr Kräfte auszubilden, sei schwierig. "Dann fehlt es wieder an den Lehrern", sagt Weisenburger. "Hier schlägt der Fachkräftemangel dann doppelt durch."

Laut Bundesfamilienministerin Lisa Paus gibt es "nach wie vor eine Betreuungslücke, in den Kitas, aber auch im Bereich der Grundschulen".
Laut Bundesfamilienministerin Lisa Paus gibt es "nach wie vor eine Betreuungslücke, in den Kitas, aber auch im Bereich der Grundschulen". © Uwe Anspach/dpa

Seine Idealvorstellung für die Kinderbetreuung? Kein Denken in nackten Zahlen und Kitaplätzen, sondern: "Dass jedes Kind den Platz hat, den es braucht, mit Optionen auf Einrichtungen mit alternativer Pädagogik – ähnlich wie in der Grundschule mit dem Sprengelsystem." Allerdings gehe dies eben nur mit genug Personal. Und ein Sprengelsystem, demzufolge Kinder einfach die nächste Einrichtung in ihrem Wohnbezirk besuchen, ist bei den Kitas kaum zu implementieren. Denn das System fußt auf der gesetzlich verankerten Schulpflicht – eine Kitapflicht dagegen gibt es nicht. Der Staat lässt Eltern die Freiheit, ihr Kind so zu betreuen oder betreuen zu lassen, wie sie es für am besten halten. Weniger Wohlmeinende sagen: Bevor Kinder in die Schule kommen, sind sie dem Staat egal.

Wie ließe sich die Situation verbessern? Das Bertelsmann-Ländermonitoring empfiehlt unter anderem: Mehr Personal in Verwaltung und Hauswirtschaft, solange es nicht mehr Erzieherinnen gibt. Und möglicherweise: Kita-Öffnungszeiten begrenzen, damit sich die Betreuungsstunden auf mehr Kinder verteilen können. Letzteres könnte sich als schwierig erweisen, da es potenziell regional und individuell sehr unterschiedliche Bedarfe über einen Kamm schert. Auch der Deutsche Kitaverband hat schon eine Reihe an Vorschlägen unterbreitet.

In Sydney protestieren Erzieherinnen und Erzieher sowie Beschäftigte aus dem Bereich der Kinderbetreuung für ein höheres Gehalt.
In Sydney protestieren Erzieherinnen und Erzieher sowie Beschäftigte aus dem Bereich der Kinderbetreuung für ein höheres Gehalt. © Dan Himbrechts/AAP/dpa

Auch die Arbeitswelt müsste sich verändern

Ursula Baumgartner vom KKT findet auch: Die Möglichkeiten für Quereinsteiger müssten ausgebaut werden, was seit einigen Jahren auch schon geschieht. Auch wäre es denkbar, ausländische Qualifikationen schneller anzuerkennen, solange Qualität und Sprachkenntnisse gewährleistet seien. Und die Politik könnte Eltern mehr unterstützen, die ihre Kinder selbst zu Hause betreuen möchten. "Aber da müsste sich halt auch die Arbeitswelt ein wenig verändern", sagt Baumgartner. Wer weiß, dass er (bzw. in den meisten Fällen: sie) im Beruf nach zu langer Abwesenheit auf dem Abstellgleis landet, versuche natürlich schnell wieder zurückzukehren.

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In München steigt die Geburtenzahl seit ein paar Jahren wieder, genauso wie die Lebenshaltungskosten, viele Eltern müssen früher wieder arbeiten – es braucht also mehr Plätze immer früher. "Es brennt von beiden Seiten", so Baumgartner, die beim KKT für das kommende Frühjahr eine Jobmesse organisiert, um weiter über den Erzieherberuf aufzuklären und Interessierte zu informieren.

"Deutschland hat viel zu spät damit angefangen, Betreuungsplätze für Kinder unter drei Jahren anzubieten", sagt Ursula Baumgartner, vermutlich weil noch länger ein konservativeres Familienbild vorgeherrscht habe. "Frankreich oder Italien sind uns da zehn, 15 Jahre voraus." In Italien etwa werde der Beruf auch mehr gewürdigt, sagt sie, dort habe jede pädagogische Kraft ein Hochschulstudium.

© Verdi

Das Standing des Erzieherberufs habe sich auch in Deutschland gebessert, was auch an der Bezahlung nach Tarif abzulesen sei. Mit Ausbildung steigen Erzieherinnen und Erzieher als Berufsanfänger bei gut 3.000 Euro brutto ein. Durch Weiterbildung und Berufserfahrung kann die Vergütung anwachsen.

Wie sich die Situation in München entwickelt, bleibt abzuwarten. "Wir sind spät dran", sagt Baumgartner. "Und das Versäumnis kann man jetzt natürlich nicht so schnell ausgleichen."

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16 Kommentare
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  • BBk am 19.12.2023 07:52 Uhr / Bewertung:

    Was hat das eigentlich die Nettikette zu interessieren wenn ich schreibe:
    Ich war schon im Kindergarten, da waren sie noch in Abrahams Wurschtkessel?
    Kennt ihr keine bayerischen Ausdrücke mehr?

  • Sarah-Muc am 18.12.2023 11:52 Uhr / Bewertung:

    Das ist doch nichts neues. Das ist überall so. Bei mir haben 3 Hausfrauen bei einem ev.. Kindergarten entschieden, dass ich (Alleinerziehend) wenn überhaupt nur einen Halbtagsplatz bekommen würde. Einen Ganztagsplatz sicher nicht, weil das den Kindern schadet. Das muss man sich mal vorstellen.
    Das ist nur ein Beispiel - das "Hausfrauenmodell" (Mann verdient und Frau kümmert sich um Kinder und Haushalt) spukt nach wie vor in vielen Köpfen rum. Und die Politik ist dadurch entlastet - da hat man sich mit Kinder- und Elterngeld "freigekauft".

  • Boettner-Salm am 18.12.2023 15:24 Uhr / Bewertung:
    Antwort auf Kommentar von Sarah-Muc

    Geht halt nichts über eine gut funktionierende Ehe wo beide in jeder Situation zusammenstehen.

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