AZ sprach mit Insidern: Warum will Dieter Reiter länger OB sein, als erlaubt?
München - An diesem Freitagnachmittag Mitte Mai fühlt sich München nach einem dieser Orte an, wo beim Autokennzeichen drei Buchstaben für die Herkunft stehen. In Trudering im Osten der Stadt, wo es noch Vorgärten und Garagen gibt, sitzen im Zelt Hunderte in Tracht an Biertischen. Davor stehen auf einem Schotterplatz Autoscooter und Kettenkarussell. Am Rand raucht eine Gruppe Männer, alle um die 20 Jahre alt. Ein paar tragen Turnschuhe zur Lederhose.
In Trudering heißt es bei Reiter noch: "Mich wählt niemand mehr"
"Das ist doch der Dieter Reiter", sagt einer. "Der ist doch voll abgehoben, ich hab zweimal Hallo gesagt, und er hat nicht reagiert", sagt ein anderer. Ein paar Meter weiter rücken der Münchner Oberbürgermeister Dieter Reiter von der SPD und der bayerische Wissenschaftsminister Markus Blume von der CSU für ein Foto vor einem Brauereiross zusammen.
Ein paar Minuten zuvor: Dieter Reiter betritt das Festzelt, einige jubeln. "Dieter", "Dieeter", "Diiiieeeeteeeer!" Einer fängt an, der nächste macht noch lauter mit. Dieter Reiter hält keine Rede, zapft kein Fass an, er winkt bloß. Die Leute klatschen trotzdem.
Außen sind die jungen Männer plötzlich schüchtern. "Herr Reiter, wann wird Cannabis endlich legalisiert?", platzt dann doch aus dem Lautesten heraus. Sein Hemd ist aufgeknöpft, die Sonnenbrille verspiegelt, der Maßkrug halb leer. "Da war ich noch nie dagegen", antwortet der Oberbürgermeister. "Da müsst ihr ihn fragen." Er deutet mit dem Kopf auf den CSU-Minister, der da alleine steht und wichtig in sein Handy tippt.
"Da würde Sie das ganze Zelt wählen, wenn Sie das laut sagen würden", meint der junge Mann. "Ich war doch auch mal jung", sagt Reiter. "Mich wählt aber niemand mehr."

Geht nämlich nicht: Bei der nächsten Kommunalwahl 2026 wäre Reiter 67 – zu alt, um zu kandidieren. An diesem Nachmittag auf der Truderinger Festwoche klingt es, als habe sich Reiter mit den bayerischen Gesetzen und der Aussicht auf Ruhestand arrangiert. Gut sechs Wochen später sieht das plötzlich anders aus.
Nicht mal seine Stellvertreterin ist über die Pläne informiert
Alle sind überrascht. Die Journalisten, die eigentlich bloß hören wollten, wo die Bahn geschlampt hat. Die Opposition, die Reiter schon lange vorwirft, Politik wie im Schlafwagen zu betreiben und pure Lustlosigkeit auszustrahlen. Und selbst seine Stellvertreterin, potenzielle Nachfolgerin und Parteifreundin Verena Dietl wusste von Reiters Ambitionen nichts.
Warum will er weitermachen? Was hat er vor? Und was hat er erreicht? Gerne hätte die AZ mit Reiter über all diese Fragen gesprochen. Doch leider sei die Terminlage gerade extrem schwierig, lässt seine Pressesprecherin ausrichten. Die AZ muss sich deshalb auf andere (und ihre eigenen Beobachtungen) verlassen. Versuch einer Annäherung.
Reiter: "Manche Dinge muss man halt tun, wie Sitzungen leiten"
Alle paar Wochen findet die Vollversammlung des Stadtrates statt, der Tag, an dem im Münchner Rathaus Politik gemacht wird. Meistens will jede Partei zu allem etwas sagen, egal, ob das andere auch schon getan haben, egal, ob die Stadträte in München zuständig sind oder die Abgeordneten in Berlin. Das kann Stunden dauern.
Ausgerechnet an diesen Tagen scheint Reiter besonders viele Nachrichten auf sein Smartphone zu bekommen – so oft schaut er auf das Display. Selbst Parteifreunde schildern, wie sehr ihn die endlosen Debatten nerven. Er macht kein Geheimnis daraus. "Manche Dinge muss man halt tun, wie Sitzungen leiten", sagte Reiter vor Kurzem. "Aber ich kann mich ja freuen, wenn sich der Herr Theiss meldet, dann weiß ich wenigstens, dass ich nicht auf fundierte Argumente eingehen muss."
Theiss über Reiter: "Er hat den besten Job überhaupt"
Hans Theiss von der CSU hatte gerade zum dritten Mal beantragt, dass sich die Stadt dafür einsetzen soll, dass das Atomkraftwerk Isar 2 weiterläuft. Entscheiden müsste das die Bundesregierung, nicht Dieter Reiter. Allerdings halten die Münchner Stadtwerke Anteile an dem Meiler.
"Wenn ein Münchner Oberbürgermeister spricht, würde doch jemand zuhören", meint Theiss ein paar Wochen danach bei einer Cola light in einem Café im Glockenbachviertel. Boris Palmer, der Oberbürgermeister von Tübingen, wo nicht einmal 100.000 Menschen leben, sitze ständig in Talkshows.
"Und Reiter?", fragt Theiss. "Der weiß gar nicht, dass er den besten Job überhaupt hat." Einen mit Macht, einen, in dem er gestalten könnte – wenn er wollte. Hans Theiss klingt fast verzweifelt.
Reiters Visionen? "Hm, keine so leichte Frage", sagt Verena Dietl
Ja, für welche großen Projekte steht Dieter Reiter eigentlich? Ein Anruf bei Verena Dietl, der dritten Münchner Bürgermeisterin, auch von der SPD. "Hm", sagt sie. Das sei gar keine so leichte Frage. Dieter Reiter stehe schließlich für alles in München, irgendwie. Er sei einer, der sich um die Menschen kümmere.
Dietl lässt kein schlechtes Wort fallen, auch nicht im Hintergrund, auch nicht, obwohl viele meinen, dass Reiter mit seinem Vorstoß vor allem eines erreicht hat: Sie zu schädigen. Schließlich gilt sie, die dritte Bürgermeisterin, auch als potenzielle Nachfolgerin. "Reiter, ein alter weißer Mann, hat ihr damit gesagt: Du kannst das nicht", sagt jemand, der etwas im Rathaus zu sagen hat. Nicht gerade feministisch, modern – oder freundlich.
Für viele steht Reiter trotzdem für das nette München, das 2015 die geflüchteten Menschen am Hauptbahnhof mit Plakaten und Kuscheltieren willkommen hieß. Damals stand er mit Gitarre auf der Bühne und sang: "I mog koa Mauer vor der Tür." Als dieses Frühjahr Russland die Ukraine angriff, schickte er Güterzüge voller Schlafsäcke, Medikamente und Konserven – und Millionen an Spendengeldern nach Kiew. Mehrmals die Woche telefoniere er mit dem Kiewer Bürgermeister Vitali Klitschko. Fröhlich sein, Bier zu trinken, könne er sich gerade schwer vorstellen, sagte Reiter als ihn ein Radio-Reporter spontan zum Frühlingsfest befragte. Er ließ sich auf dem Volksfest nicht blicken. Ob die Wiesn stattfinden soll? Dazu schwieg er lange.
Bauchpolitiker Reiter: Mal wird's lustig, mal ist hinterher einer beleidigt
Die Entscheidung traf er alleine, ohne Debatte im Stadtrat. Das sei arrogant, sagen manche. Die Verantwortung trage er schließlich auch alleine, sagen andere. In einem Punkt treffen sich beide Pole: Reiter sei ein "Bauchpolitiker", keiner der Floskeln bloß noch ausspucken muss, weil sie ihm ohnehin schon von seiner Pressesprecherin vorgekaut auf der Zunge liegen. Im besten Fall wird's lustig. Im schlechtesten Fall ist hinterher jemand beleidigt. Was aber Reiters große Vision für München sein soll? Dazu fällt keinem so recht etwas ein, egal ob aus der eigenen Partei oder einer anderen.
Dieter Reiter ist ein Verwaltungsmensch. Anfang der 80er, gleich nach der Ausbildung, begann er im Münchner Rathaus, zuerst in der Stadtkämmerei. Dann war er Büroleiter, Leiter des Steueramts, stellvertretender Stadtkämmerer, Wirtschaftsreferent und schließlich: Oberbürgermeister. Trotzdem klingt es oft so, als habe er mit der Verwaltung gar nichts zu tun – zum Beispiel, wenn er meckert, dass die "geschätzten Kollegen" Bauprojekte viel zu lange planen, zu viel Papier verschwenden oder Corona-Zahlen falsch erfassen.
Führung innerhalb seiner Verwaltung übernehme Reiter praktisch nicht, schildert einer in seinem großen Büro, der lieber nicht mit seinem Namen in der Zeitung stehen, aber trotzdem plaudern will – etwa über die Sitzungen der Referatsleiter mit dem OB. Die Referenten sind so etwas wie städtische Minister, also quasi Reiters Kabinett. Doch die großen politischen Linien bespreche Reiter mit ihnen kaum. Er beende diese Sitzungen so schnell, dass für viele die Anfahrt länger dauere als die ganze Besprechung. Reiter sei eben – "nun ja", Pause. "Freizeitorientiert".
Ein Wort, bei dem selbst die laut lachen, die eigentlich betonen, wie gut sie mit dem OB zusammenarbeiten. Ein Termin am Abend oder am Wochenende? Die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass man dann auf seine Stellvertreterinnen Verena Dietl oder Katrin Habenschaden von den Grünen trifft.
Dieter Reiter: Lieber Bundes-SPD als München-SPD?
Sie zündete sogar den Christbaum vor dem Rathaus an. Dass sie sich dort als Oberhaupt der Stadt in Szene setzen konnte, soll manchen Genossen gewaltig gestunken haben. Überhaupt gilt Reiter als keiner, der sich für seine Partei ins Zeug legen würde. Zum Parteitag der Münchner SPD nächsten Samstag wird er nicht erscheinen, beim Sommerfest der SPD-Stadtratsfraktion war er entschuldigt.
Dafür lässt er gerne fallen, wie gut er sich mit Lars Klingbeil, dem Bundeschef der SPD, verstehe, wie kurz sein Draht zum Kanzler Olaf Scholz sei.

Die autofreie Altstadt, das könnte sein großes Projekt sein
Als beide vor der Bundestagswahl im Sommer den Viktualienmarkt besuchten, ratschte Reiter lieber mit einer Wirtin als für Fotos zu posieren. Trotzdem erkannten mehr Menschen den OB als den späteren Kanzler.
"Reiter kann sich mit jedem Menschen auf Augenhöhe unterhalten", sagt der Chef der Münchner SPD, Christian Köning. Das sei einer der Gründe, warum beim letzten Mal fast 72 Prozent der Wähler für ihn stimmten. Katrin Habenschaden von den Grünen schaffte es nicht mal in die Stichwahl.
Köning fällt dann doch ein großes Projekt von Reiter ein: Dass die Altstadt autofrei werden soll. Bloß blöd, dass inzwischen alle denken, die Idee kommt von den Grünen. "Bei denen spricht aber keiner die Sprache der Bürger so wie Dieter Reiter", ist sich Köning sicher. Die SPD hat allerdings auch noch keinen gefunden, dem sie das zutraut.