Arbeiterklasse ist Nagelsmanns letzte Rettung - diese Spieler könnten dem DFB helfen
Wien - Der Barde Rainhard Fendrich durfte an so einem triumphalen Abend natürlich nicht fehlen. "I am from Austria", die gefühlige Hymne an sein Heimatland, lief im Ernst-Happel-Stadion, als die rot-weiß-roten Helden auf ihre Ehrenrunde gingen. Während die bedröppelten "Piefkes" Richtung Kabinentrakt verschwanden, schallte ihnen aus der Kurve höhnisch "Auf Wie-derseeehn!" und "der DFB is' so am Oarsch!" entgegen.
Das DFB-Team wird immer mehr zum Mysterium
Das völlig verdiente 2:0 der überlegenen Österreicher war der zweite Länderspiel-Erfolg hintereinander im "Derby" wie man in der Alpenrepublik sagt. So etwas gelang zuletzt 1931. Die DFB-Elf hingegen liegt vor der Heim-EM 2024 am Boden, wirkt leblos, lethargisch. Nagelsmann rätselt über die Qualität und Euphorisierbarkeit seiner Mannschaft, die wiederum rätselt über seine Maßnahmen und taktischen Expertisen (wenn auch nicht öffentlich). Für alle Beobachter ist die desaströse Gesamtsituation ein einziges Mysterium, etwa für Uli Hoeneß. "Ich bin fassungslos über diese Entwicklung und wüsste nicht, an welchen Schrauben man drehen muss, um dieses Chaos kurzfristig zu beseitigen", sagte Bayerns Ehrenpräsident am Mittwoch dem "Kicker".
Für Nagelsmann bedeutet das 0:2 die zweite Niederlage im vierten Spiel bei nur einem Sieg. Das 2:3 gegen die Türkei war ein herber Dämpfer, der als Rückschlag verkauft wurde. Nach der zweiten Themaverfehlung drei Tage später kann das nicht mehr behauptet werden. Die anfängliche Euphorie? Der neue, angeblich so simple Ansatz? Alles verpufft, alle verpeilt, fast alle verprellt. 205 Tage vor Beginn der Heim-EM hat die Nationalelf ein desaströses Testspiel-Jahr hinter sich mit lediglich drei Erfolgen in elf Partien - bei sechs Niederlagen.
Nagelsmann: "Es geht nur über deutsche Tugenden. Das ist Fakt."
"Wir dürfen jetzt nicht in eine Opferrolle verfallen, sondern müssen akzeptieren, dass wir extrem viel Arbeit vor uns haben", sagte der Bundestrainer mit Blick auf die nun anstehenden vier Monate bis zu den nächsten Länderspielen im März. Er fordert: "Es geht nur über deutsche Tugenden. Das ist Fakt. Wir dürfen nicht in Schönheit sterben." Da ist er wieder, der in spielerisch besseren Zeiten so freudig begrabene Mythos, im DFB-Trikot müsse oder könne man nur über den Kampf zum Spiel finden.
In der Defensive drückt der Schuh - aber so gewaltig, dass man kaum laufen kann. In den vorigen 23 Spielen konnte das DFB-Team nur drei Mal zu null spielen: gegen Israel, den Oman und Peru. 2023 kassierte man pro Partie im Schnitt zwei Gegentore. Daran konnte auch der von Nagelsmann für mehr Stabilität reaktivierte Mats Hummels und die Experimente mit Kai Havertz als linkem Schienenspieler nichts ändern. "Wir können erfolgreich sein, wenn wir die Verteidigungszeit minimieren", so Nagelsmann. Denn: "Wir werden auch im Sommer keine Verteidigungs-Monster werden. Das sind wir nicht."
Neuer Nagelsmann-Weg: "Ich stelle ein Top-Talent weniger auf, dafür einen Worker mehr"
Nagelsmanns Conclusio aus der Dysbalance zwischen Offensivpotenzial und defensiver Qual: die Arbeiterklasse als letzte Rettung. "Als Trainer hast du die Hoffnung: Okay, wenn du fünf Zauberer hast: Die wuppen dir das vielleicht. Normalerweise, wenn wir das Vertrauen hätten und in den letzten Jahren mehr Spiele gewonnen als verloren hätten, dann würden die wuppen, wie es mehr wuppen gar nicht geht." Alles Konjunktiv. Hätte, wäre, wuppe. "Es brennt mir als Trainer unter den Nägeln, wenn du die ganzen Talente siehst, die wir haben. Aber dann musst du vielleicht in die Faust beißen und sagen: ich stelle ein Top-Talent weniger auf, dafür einen Worker mehr."
Ein defensiv denkender Arbeiter, ein Typ fürs Grobe, der sich für keinen Grätsche zu schade ist. Wen er meint? Einen wie Robert Andrich (Leverkusen), der am Dienstag sein Debüt feierte oder defensiv orientierte Außenverteidiger wie Lukas Klostermann (Leipzig). Von Nagelsmann aussortierte bzw. nicht nominierte Kräfte wie Emre Can (BVB) oder Maximilian Arnold (Wolfsburg) zurückholen? Nicht ausgeschlossen. Wien könnte eines Tages als Startpunkt der Jens-Jeremiesierung von Nagelsmann gelten.