Debatte um Sozialleistungen: Warum Flüchtlinge nun wirklich nach Deutschland kommen

In der Asyl-Debatte wird viel vom Pull-Faktor von staatlichen Hilfen gesprochen. In der Wissenschaft ist dieser aber nicht belegt. Stattdessen spielen ganz andere Faktoren bei der Wahl des Fluchtlandes eine Rolle.
Maximilian Neumair |
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Geflüchtete vor einem Ankunftszentrum in München. Wer weiter als ins Nachbarland flieht, denkt nicht zuerst an die potenzielle Sozialhilfe.
Geflüchtete vor einem Ankunftszentrum in München. Wer weiter als ins Nachbarland flieht, denkt nicht zuerst an die potenzielle Sozialhilfe. © IMAGO

München - Wenn Geflüchtete nach Deutschland kommen, legen sie sich in die "soziale Hängematte" und schicken die bereitgestellten Gelder zurück in die Heimat – das ist zumindest die Befürchtung vieler Deutscher. Einer Insa-Umfrage zufolge sind 69 Prozent der Bevölkerung dafür, dass Geflüchtete Sach- statt Geldleistungen erhalten. Die in der Bund-Länder-Runde zur Migrationspolitik verabredete Eindämmung von Anreizen für irreguläre Migration (sogenannte Pull-Faktoren) ist in der ersten Kabinettssitzung der bayerischen Regierung: Eine landesweite Bezahlkarte soll "Zuzugsanreize" verhindern.

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Aber es ist ein Kampf gegen ein Phantom. Denn: "Ich kenne keine Studie, die Sozialleistungen oder Unterschiede zwischen Sozialleistungen als Pull-Faktor belegen kann", sagt Niklas Harder, Abteilungsleiter Integration beim Deutschen Zentrum für Integrations- und Migrationsforschung, der AZ. "Es ist nach allem, was wir wissen, nichts, was die großen Migrationsströme irgendwie leitet."

Er räumt zwar ein: "Es gibt sicherlich Milieus, in denen gezielt versucht wird, Sozialleistungen zu beziehen, sonst würden wir nicht darüber reden, wenn es keine anekdotische Evidenz gäbe." Aber es gebe eben auch keine Evidenz, dass es ein weit verbreitetes Phänomen sei. Gerade nicht in großen Notsituationen wie in der Ukraine, Syrien oder in Afghanistan nach Übernahme der Taliban.

Pull-Faktor Sozialleistungen? Sprache und soziale Netzwerke sind die größten Anreize

Wie wenig Einfluss der "Pull-Faktor" durch Sozialleistungen hat, zeigt auch eine Studie in der Schweiz aus diesem Jahr. Dort unterscheiden sich die Sozialleistungen stark je nach Kanton. Dementsprechend müssten besonders wegen des Pull-Faktors viele anerkannte Geflüchtete in die Kantone mit den höchsten Sozialleistungen umsiedeln. Doch die Forscher konnten solch einen Effekt nicht feststellen. Wichtiger ist der Studie zufolge, wie viele Menschen der eigenen Nationalität in der jeweiligen Ziel-Kommune leben.

Das bestätigt auch Integrationsforscher Harder: "Ein viel wichtigerer Faktor ist, wo die Menschen bestehende soziale Netzwerke haben. Haben die schon Familie woanders? Gibt es eine gemeinsame Sprache?" Auch eine starke Wirtschaft, wo Menschen gut arbeiten können, sowie Rechtsstaatlichkeit und Demokratie gehören laut Harder zu den Aspekten, die eine Migrationsentscheidung beeinflussen.

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Laut Katharina Grote vom Bayerischen Flüchtlingsrat ist für die fliehenden Menschen vor allem wichtig, "dass man Schutz vor Diskriminierung hat, dass es unabhängige Gerichtsbarkeit gibt, dass es keine Korruption im selben Maße gibt". Auch einen Zugang zu Bildung für Kinder erhoffen sich ihr zufolge Geflüchtete. Doch all diese Faktoren gelten laut Harder nur für jene, die nicht ins direkte Nachbarland ziehen. Denn der Großteil bleibt in der Nähe der Heimat.

Die Bezahlkarte verhindert keine Fluchtbewegungen

Die Staatsregierung hat in ihrer ersten Kabinettssitzung schon Tatsachen geschaffen. Und setzt im wahrsten Sinne des Wortes alles auf eine Karte, die die Zuwanderungsströme abschwächen soll. Anstatt frei verfügbares Geld zu erhalten, wird dieses an eine Bezahlkarte gekoppelt, mit der man – anders als bei einer EC-Karte – nur Güter erwerben, aber kein Geld abheben kann.

Dabei gilt bereits jetzt für Asylsuchende zunächst das Sachleistungsprinzip in den Ankerzentren, wo diese nach Ankunft untergebracht werden: "Kantinenessen, Hygienepakete, im Zweifelsfall Klamotten aus der Kleiderkammer. Alles, was geht, im Sachleistungsprinzip. Und dann ein gekürztes Taschengeld: 120 Euro maximal. So viel zu den wahnsinnigen Geldbeträgen, die da ausgezahlt werden", sagt Grote vom Flüchtlingsrat der AZ. Erst nach Verlassen der Ankerzentren (bis zu zwei Jahre) gibt es die Leistungen für Asylbewerber als reinen Geldbetrag (410 Euro gesamt). Nach 32 Monaten (vor dem Bund-Länder-Treffen 18 Monate) erhöht sich der auf 502 Euro monatlich.

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Die Einschätzung von Integrationsforscher Harder zur Bezahlkarte: "Ich denke nicht, dass diese irgendetwas an der Zahl der Migranten ändern wird." Es verursache zunächst Aufwand in einer Situation, in der die zuständigen Kommunen ohnehin schon überlastet sind. "Sie führt nicht zu einer Entlastung, aber auf jeden Fall erstmal zu einer Belastung", sagt der Forscher. "Diese Idee, ich mache Zuwanderung unattraktiv, indem ich das Leben für die Menschen hier unattraktiv mache, halte ich für sehr kurz gedacht und eigentlich auch nicht wirksam."

Die Bezahlkarte ist demnach also ein mit viel Aufwand verbundenes Mittel gegen einen zu vernachlässigenden Effekt. Für Grote versinnbildlicht das Betonen des Pull-Faktors von Sozialleistungen vor allem eins: Eine "ganz billige Politik", die auf Kosten Geflüchteter nach unten trete, ohne dass das Versprechen, weniger Menschen kämen hierher, eingelöst werde.

Aber wie viele Geflüchtete beziehen überhaupt Sozialhilfe?

Aus einem Bericht des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) aus diesem Jahr geht hervor, dass sechs Jahre nach Zuzug 46 Prozent der Geflüchteten Leistungen beziehen oder Teil einer Bedarfsgemeinschaft (Bürgergeld, AsylBLG, ALGII) sind, nach sieben und mehr Jahren sind es 40 Prozent. 28 Prozent der Personen, die in einer Bedarfsgemeinschaft leben, sind erwerbstätig. 21 Prozent sind der Bevölkerungsdurchschnitt.

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Sechs Jahre nach Zuzug arbeiten 54 Prozent der Geflüchteten (67 Prozent der Männer, 23 Prozent der Frauen). Nach sieben Jahren sind es 76 Prozent der Männer und 26 Prozent der Frauen. Zum Vergleich: Der bundesdeutsche Durchschnitt liegt laut dem Statistischen Bundesamt bei Männern bei 80,6 Prozent und bei Frauen bei 73,1 Prozent.

Dass vergleichsweise so wenige geflüchtete Frauen arbeiten, erklärt das IAB mit der von Frauen erledigten Sorgearbeit und Kindererziehung. Das Ergebnis des Berichts: Je länger Geflüchtete in Deutschland leben, umso mehr werden erwerbstätig. Einen Zugang zum Arbeitsmarkt erhalten Asylbewerber ohne Kinder nach neun Monaten.

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36 Kommentare
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  • Perlacher am 12.12.2023 01:54 Uhr / Bewertung:

    Der Pull-Faktor für ganze Familien von Migranten dürfte die Aussicht auf eine kostenlose Wohnung sein! Solche Wohnungen werden vom Amt für Wohnen und Migration zugeteilt, und dem normalen Wohnungsmarkt entzogen! Da kann dann manch eine junge Münchner Familie auf Wohnungssuche mit dem Ofenrohr ins Gebirge schaun!

  • Der Münchner am 11.12.2023 10:49 Uhr / Bewertung:

    410 € Taschengeld ((frei Verfügbar für den ganzen Monat) im Monat dürften nicht alle Arbeitende oder Rentner haben!
    Außerdem, unabhängig von den Leistungen, sind mir das enfach zu viele Neubürger!

  • Der wahre tscharlie am 11.12.2023 14:43 Uhr / Bewertung:
    Antwort auf Kommentar von Der Münchner

    "410 € Taschengeld ((frei Verfügbar für den ganzen Monat) im Monat dürften nicht alle Arbeitende oder Rentner haben!"

    Erstens steht im Artikel ganz klar, dass es am Anfang nur 120 Euro im Monat gibt.
    Zweitens steht weiter im Artikel, Zitat: "Erst nach Verlassen der Ankerzentren (bis zu zwei Jahre) gibt es die Leistungen für Asylbewerber als reinen Geldbetrag (410 Euro gesamt). "

    Also frühestens nach 2 !! Jahren gibts die 410 Euro.

    Und Drittens, was die Rentner betrifft, inzwischen dürfte bekannt sein, dass JEDER Bürger Anspruch auf Bürgergeld hat und auch Wohngeld plus beantragen kann.
    Das betrifft auch die Arbeitnehmer. Das nennt man "Aufstocker".

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