Sommer vor 70 Jahren - Tabak als Schmiermittel

Mein Vater war Eisenbahner, Stellwerksmeister beim Eilgüterbahnhof München. Dieser Bahnhof begann westlich der Paul-Heyse-Unterführung und endete unterhalb des Hauptzollamtes München, an der Landsberger Straße.
Er bediente die dort ansässigen Brauereien und Spediteure, wie Schenker & Co., Laderinnung, Winkler, Wetsch und später auch noch Kühne und Nagel. Als eigenständigen Güterbahnhof gibt es ihn schon lange nicht mehr.
Er, mein Vater, hatte damals noch ein Zimmer im „Gelben Block“ an der De-la-Paz-Straße – einem Haus, das nicht zerbombt war. Dort war die Wirtschaft „Zum Wohnungsverein“. Das ganze Areal gehört – auch heute noch – dem Verein. Wir nannten die Wirtschaft „Beim Scharl“. Das war der Wirt.
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Es bestand damals aber schon eine Zuzugssperre, welche unsere Rückkehr nach München erschwerte.
Meine Mutter war vor ihrer Verheiratung ein Dienstmädchen und „Beiköchin“ bei Geheimrat Dr. Koppelstädter, in der Lachnerstraße 29. Das Haus hatte, wie viele Villen in der Umgebung, keinen ernsthaften Kriegsschaden erlitten. Lediglich die Herz-Jesu-Kirche und einige Häuser am Beginn der Romanstraße und Renatastraße waren zerbombt.
Schnell wieder rein ins Haus, als die Truppen abziehen
Das Haus 29 hatte, wie einige Villen in der Umgebung, US-Kampftruppen einquartiert bekommen und die Bewohner sollten das Haus räumen. Es gelang aber der Frau Geheimrat und ihrem Neffen, Herrn Ludwig Schroth, mit Familie auf dem Grundstück zu bleiben (was da alles kaputt gemacht und gestohlen wurde, ist eine andere Geschichte). Sie hausten im rückwärtigen Teil des Anwesens in einem fest gemauerten Gartenhäusl, welches einen Kamin und somit auch einen Ofen hatte.
Als die Kampftruppen abgezogen und gegen Verwaltungstruppen ausgewechselt werden sollten, bezog die Familie sofort wieder das Haus und suchte es mit Verwandten und Bekannten übervoll zu machen. Das gelang. Im ersten Stock kam die Familie Kirchgässner (er war damals Prokurist bei Kustermann) mit Oma unter, und per Zufall, aus einer Begegnung mit meinem Vater, auch wir – zu fünft.
Eine Uniform hatte damals anscheinend immer noch etwas Respektables an sich, auch die eines Eisenbahners. Es war die einzige „Sonntagskleidung“ meines Vaters. Und so überstand das Haus alle weiteren Beschlagnahmeversuche, sowohl der Amis als auch der städtischen Beamten.
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Der Umzug nach München im März 1946 war für meinen Vater anscheinend kein Problem. Als Nichtraucher, aber Schwerarbeiter (dafür gab es Sonderzuteilungen) hatte er Tabakwaren als „Schmiermittel“ zur Verfügung. Und so „organisierte“ er bei der Fuhrparkverwaltung der Eisenbahn ein Fahrzeug – wie sich herausstellte, war es ein Ami-Truck – der eine Ladung für das US Camp Dachau (ehemaliges KZ) zu liefern hatte. Der Fahrer war ein Hiesiger.
Allzu viel Umzugsgut hatten wir nicht, und so kamen wir spät am Abend in der Lachnerstraße an. Ein Ami-Truck vor dem Haus war damals nichts Ungewöhnliches. Wir hatten im Dachbereich drei kleine ehemalige Dienstbotenzimmer bekommen. Vater zapfte den Kamin an, um den wohl kleinsten Raum als Küche zu nutzen.
Was nun die Verpflegung betrifft, so hatte mein Vater in weiser Voraussicht schon ab Kriegsbeginn verfügt, dass alles Brot, welches wir zugeteilt bekommen und nicht mit den Ukrainern, die neben den „Gelben Blöcken“ in Baracken hausten, geteilt wurde, zu Zwieback gedörrt und in Rupfensäcke eingenäht wurde. Seine Devise: Mit Zwieback und Zwiebeln kann man nicht verhungern.
Die Hasendame überlebt – es fehlt ein Rammler
Er sammelte die auf dem Land bei verschiedenen Verwandten deponierten Brotsäcke ein. Es waren ziemlich viele, die noch die Kriegswirren überdauert hatten und nun im Speicher lagerten, das heißt, an den Sparren aufgehängt wurden, damit keine Mäuse daran kommen.
Wir Kinder knabberten sehr gerne das Zwiebackbrot, wenn es nach dem Toasten knackig dürr geworden ist.
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Überlebt hatte auch meine Hasendame aus Ziegelberg. Es war ein Chinchilla-Hase – mit silbergrauem Fell. Nur am Rammler fehlte es.
Da kam mir wieder „Kamerad Zufall“, wie so oft in meinem Leben, zu Hilfe. Als ich die nähere Umgebung inspizierte, traf ich in der Renatastraße auf einen „Indianerstamm“ – aber das ist eine eigene Geschichte. Dort war der Weiß Rudi, und der hatten einen Rammler, einen belgischen Riesen.
Notoperation bei den Barmherzigen Brüdern in Nymphenburg
Der erste Versuch in der Waschküche im Haus vom Weiß Rudi, die beiden Hasen zur Fortpflanzung zu bewegen, scheiterte. Meine Hasendame wollte und wollte ums Verrecken nicht.
Was tun? Da probierten wir es in ihrem kleinen Hasenstall. So schnell konnten wir gar nicht schauen und schon passierte es und das gleich mehrmals. Das Ergebnis waren acht Junghasen. Und von da an lief die Hasenproduktion an. Nach drei bis vier Monaten waren die männlichen schlachtreif, die weiblichen zur Nachzucht geeignet.
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1947 wäre mein Vater fast an einem Blinddarmdurchbruch gestorben und wurde bei den „Barmherzigen Brüdern“ am Schloss Nymphenburg operiert und verarztet. Bei meinen regelmäßigen Besuchen dort bekam ich immer zu essen. Aber meist nur Grießbrei oder Haferschleimsuppe. Nun, wählerisch mit dem Essen war man damals nicht.
Das Jahr ist etwa genauso trocken wie 2015
Die Karnickelzucht lief inzwischen auf Hochtouren. Bis mein Vater aus dem Krankenhaus kam, erwarteten ihn sage und schreibe neunundvierzig überwiegend schlachtreife Karnickel, und die fraßen täglich wenigsten ein Heuwagerl voll Gras, getrocknetes Brot ebenso. Nun war das Jahr 1948 etwa genauso trocken wie heuer, 2015.
Auf Vaters Anordnung wurde der Bestand nun dezimiert und alle im Haus bekamen von mir geschlachtete Karnickel. Und das wochenlang! Und ich als Schlachter die Köpfe! Die wurden in Essigwasser, Zwiebel und Salz (ähnlich wie die „Knöcherlsulz“) gekocht und mit Genuss von mir ausgefieselt.
Zeitzeugen erinnern sich
Über den schwierigen Neuanfang nach dem Krieg, über die Erlebnisse der Münchnerinnen und Münchner sowie über die ersten zaghaften Schritte der Stadt in das neue demokratische Zeitalter im Sommer vor 70 Jahren berichtet die AZ-Serie „Harte Jahre“.
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