Sommer vor 70 Jahren - Hamstern und bergsteigen

Hermann Huber, AZ-Leser und 84 Jahre, erinnert sich an die unmittelbare Nachkriegszeit.
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Die Familie Huber Mitte der 40er Jahre im Berchtesgadener Land (von links): Fred Huber, Tante Frieda, Vater Max Huber mit dem kleinen Maxi und AZ-Leser Hermann Huber.
privat Die Familie Huber Mitte der 40er Jahre im Berchtesgadener Land (von links): Fred Huber, Tante Frieda, Vater Max Huber mit dem kleinen Maxi und AZ-Leser Hermann Huber.

Nun sind wir, für den ersten Nachkriegs-Winter dürftig gerüstet, alle fünf rechtzeitig wieder im eigenen Heim beisammen. Auch die Tante Frieda (Papas Schwester) muss noch Platz finden, weil sie keine eigene Bleibe mehr hat. Alle haben wir überlebt, im noch nicht reparierten Haus ist’s kalt genug, alles Essen ist knapp. Lebensmittelmarken sind ein zentraler Begriff.

Wie viel Gramm Fett pro Monat stehen da drauf? Zusatz-Beschaffung aller Art muss irgendwie sein: Hamsterfahrten aufs Land oder Treffs am Schwarzhandels-Zentrum Erhardstraße, neben dem Deutschen Museum oder sonst wo gehören dazu.

Außerdem soll der Mensch, auch wenn er hungert, einen Beruf haben. Gymnasium-Betrieb gibt es keinen – oder noch nicht wieder. Unsere Maria-Theresia-Schule am Regerplatz steht zwar im Wesentlichen noch da, auch wenn es oben hereinregnet oder schneit, die meisten meiner Klassen-Kameraden von früher warten, was wohl geschehen würde.

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Mein Vater aber meint – und ich widerspreche ihm nicht, weil seine Autorität unantastbar ist – dass ich wohl besser gleich versuchen sollte, einen Beruf zu erlernen.

Der Zufall will es, dass er, mit seinem geretteten alten Militär-Dienstrad unterwegs, an der Bäckermühle am Candid-Platz (dort, wo heute das Verkehrsgewühl des Mittleren Rings am Candid-Tunnel pulsiert) einen alten Bekannten trifft: Josef Liebhart, Chef der Salewa Lederwarenfabrik. Mein Vater fragt, ob denn nicht eine Lehrstelle für seinen Sohn Hermann zu haben sein könnte. Ja, tatsächlich, nach kritischer Prüfung bei einer Chef-Privataudienz beginnt am 1. Oktober 1945 meine dreijährige Lehrzeit als Industriekaufmann. Dass daraus eine Art lebenslanges Berufs-Abenteuer wird, war kaum vorhersehbar.

Nie habe ich die Berge aus dem Wunschdenken verloren, doch die erscheinen jetzt reichlich weit weg. 1945/46 gibt’s nur mal eine Art kleine Skitour, als Langlauf mit selbst gemachter Spur von Grünwald (wohin uns die Straßenbahn der Linie 25 bringt) bis Deining, mit Vater und Bruder Fred auf den üblichen Eschenski mit Riemenbindung, (für Aufstieg und Abfahrt).

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Erstaunlich, dass wir Derartiges noch haben. Zuvor gab es ja die verpflichtende Skisammelaktion für die russischen Ostfront-Winter, der auch die schönen Hickory-Ski meines Vaters zum Opfer fielen. Von der Ludwigshöhe bei Deining hat man bei Föhn einen wunderbaren Blick auf die ganze Alpenkette, vom Mangfallgebirge bis tief ins Allgäu, Wetterstein und Karwendel.

4. März 1946: Ab heute ist die Münchner Straßenbahn nur noch mit Berechtigungsschein benutzbar. Es gibt auch Zeiten, wo wegen Überfüllung der unregelmäßig verkehrenden Linien ganze Menschentrauben außen dran hängen, an Trittbrettern oder auf den Kupplungsstücken zwischen den Wägen stehen.

12. April 1946: Die Besatzungsmacht schlägt zu. Große Teile von Harlaching, einer Vorzugs-Wohngegend, sind von der Bevölkerung zu räumen. Die Häuser werden von der US-Militärbehörde beschlagnahmt, für Armee-Angehörige. Das betroffene Areal wird im Schnellverfahren mit Stacheldraht – drei dicke Rollen in- und übereinander – abgeriegelt, wird sind mit betroffen.

 

Schrank und Ofen werden erst mal beschlagnahmt

 

Am Authariplatz ist ein Checkpoint, wo jeder aus- und eingehende Anwohner sich beim bewaffneten Posten mit Passierschein auszuweisen hat. Die MP (Military Police) patrouilliert ständig mit Maschinengewehr-bestücktem Jeep um das Stacheldrahtgehege.

Was wird mit uns und unserer knappen Habe? Wohnungs-Kommissionen kommen ins Haus. Sind wir nun dran - oder ist unser Häuschen doch zu bescheiden für die Sieger? Ein Schrank und unser Ofen werden schon mal beschlagnahmt, bleiben aber noch da.

Unbedingt möchten wir unsere Betten retten. Als eines Abends der MP-Jeep grad vorbeigefahren ist, werfe ich ein langes Brett über den hohen Stacheldraht, haste balancierend mit dem Bettzeug unterm Arm über das Hindernis, um die Sachen bei einer guten Bekannten außerhalb zu deponieren.

Am 14. September wird unser Haus vorläufig beschlagnahmt. Schließlich aber dürfen wir bleiben, viele andere nicht. Was das in dieser allgemeinen Wohnungsnot bedeutet! Nach sieben Monaten Enklave verschwindet unser Stacheldraht wieder.

Auch Schöneres beschert uns das Jahr: Fred und ich sind bei den St.-Georgs-Pfadfindern. Im Juli fahren wir mit unserer Gruppe per Bahn nach Thalham, wandern schwer bepackt, hinauf zum Seehamer See. Auf der Insel da drüben soll unser Zeltlager stehen. Einer schafft die Möglichkeit dazu: Der Veth Heini, Sohn des Möbelhauses Veth, besitzt ein Faltboot, mit dem im Pendelverkehr Leute und Material dorthin kommen.

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Zusammenknöpfbare Barras-Zeltplanen bilden die Behausung, keiner von uns hat einen Schlafsack, keine Bodenmatte, doch am Lagerfeuer ist es sehr gemütlich. Nach einigen Tagen patrouillieren ein paar GIs mit dem Schlauchboot am See. Sie sagen uns, dass wir illegal hier sind und verschwinden müssen. Schweren Herzens bauen wir ab — vielleicht tun wir denen sogar leid.

Zum Alltag gehört unausweichlich, immer wieder die Fahrradbereifung zu flicken. Seit vielen Jahren gibt es für Normalmenschen keine Bereifung zu kaufen. Man entwickelt also Nottechniken: Stücke von alten Reifen oder Schläuchen über- oder unterlegen, Schnurbandagen halten das Ganze zusammen, beim Fahren geht es holter-di-polper. Wenn es irgendwo mal Gummilösung gibt, ist das eine Sensation.

Aber wir kommen endlich wieder ins Gebirge. Übriggebliebene, meist krass überfüllte Wagen der alten Reichsbahn, bringen uns in die bayrischen Voralpen. Mit Papa steigen Fred und ich von Benediktbeuern zur Tutzinger Hütte auf. Wir überschreiten die Benediktenwand. Bei Wegscheid überqueren wir die Isar. Weiter geht’s Richtung Seekarkreuz, Schönberg, Ross-und Buchstein und nach Tegernsee. Nach dieser Probetour starten wir zu fünft, einschließlich Mama und meinem Freund Werner Schmidt, von der Bahnstation Klais bei Mittenwald Richtung Soiern.

Bei dem langen Talhatscher knallen mit jedem Schritt die eisengenagelten Bergschuhe gelenkstimulierend auf den Asphalt, bevor’s den Berg hinauf gehen kann. Über Fischbachalm und Lakaiensteig (einst für König Ludwigs Hilfstrupps zum Jagdhaus angelegt) erreichen wir am Abend die Hütte der DAV-Sektion Hochland, bei der Papa Mitglied ist. Idyllisch liegt das Bergsteigerheim über den dunkelgrünen Augen der kleinen Soiernseen.

 

Militärstiefel aus dem 1. Weltkrieg statt Bergschuhe

 

Hungrig packen wir unsere Kartoffeln aus, wir können sie hier kochen. Brotähnliches (mit teilweisem Kartoffel-Inhalt) haben wir auch dabei, sowie eine US Army Spinat-Konserve.

In den folgenden Tagen werden die Soiern-Gipfel abgeklappert, von der Schöttelkarspitz, Reißenden Lahnspitz bis zur Krapfenkarspitz. Werner ist mangels Bergschuhen mit Militärstiefeln seines Vaters aus dem 1. Weltkrieg unterwegs. Gleich bei der ersten Tour löst sich die Sohle ab, mit einem Schnürl befestigen wir sie am Oberleder.

Schade, dass unsere Zeit hier so schnell zu Ende geht, wir müssen nach Hause. Über Jägersruh, Jöchl und Fereinalm geht’s zurück nach Mittenwald zum Bahnhof, nach unserer ersten Gesamt-Familientour seit 1942 – nur der kleine Maxi (7) war daheim bei der Oma geblieben.

Erfolgs-Notiz vom 24. November 1946: 47 Pfund Weizen-Körner mit dem Radl von Wasserburg/Eschlbach (wo Tante Frieda am Bauernhof arbeitet) nach Hause gebracht – ohne Angabe, was unsere Gegenleistung dafür war.

Im Dezember, kurz vor Weihnachten erreicht uns ein Paket aus Südamerika: Von Papas Bruder Onkel Ludwig, der in den 30er Jahren nach Rio de Janeiro ausgewandert war, ohne dort irgendwelche Segnungen vorzufinden. Das Paket enthält gebrauchte Kleidung, wie wir sie heute kaum zur Altkleidersammlung geben würden. Eine Art Anzug für mich ist dabei, in den ich gewiss eineinhalbmal hineinpassen würde. Doch wir sind dankbar für seine Hilfestellung. Als Besonderheit enthält das Paket einen neuen Fahrradreifen. Toll!

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Doch leider zeigt sich, dass der auf unsere Felgen nicht passt, er ist zu groß. Also schneiden wir ihn durch, zur Kürzung, mit manueller Längsnaht der Stoß-Verbindung. Die Konstruktion hält nur für wenige Kilometer.

1947 beginnt mit einem Highlight: meinem ersten Skilager. Als Pfadfinder finden wir acht Buben tatsächlich Unterschlupf, im Karmelitenkloster Reisach bei Oberaudorf. Das nahegelegene Hocheck wird unser Skigelände. Eiskaltes Januar-Wetter, meine Skikünste gleich null. Und doch macht es Spaß – bis leider unersetzliches Gut zu Bruch geht: Spitzlsalat heißt das, was meinen alten Wehrmacht-Ski mit weiß-grün gestreifter Oberfläche am Lerchhang widerfährt.

Diverse Radl-Touren, noch immer mit meinem viel zu kleinen, alten Kinder-Fahrrad, ziehen sich durchs Jahr, häufig verbunden mit Hamsterfahrten zum beschwerlichen zusätzlichen Nahrungsgewinn vom Land. Mangels Rennradl versuche ich aus dem Mini-Fahrzeug und mir das bestmögliche herauszuholen.

Einmal werden drei Säcke mit Weißkraut aus der Kraut-Gegend Ismaning mit angehängtem Leiterwagl nach Hause transportiert. Ein andermal ein Sack Kartoffeln von Wasserburg im Regensturm-Gegenwind – bis zur Erschöpfung.

Mit Papa und Bruder Fred gibt’s Anfang Juli eine Trainingstour für den geplanten Berchtesgaden-Berg-Urlaub: Über die Schöngänge geht’s auf die Alpspitze. Es ist Alpenrosen-Blütezeit. Unser Abstieg führt übers Hupfleitenjoch und durch die romantische Höllental-Klamm nach Hammersbach. Ein Traum!

 

Erinnerungen von Zeitzeugen

 

Über den Neuanfang nach dem Krieg, über die ersten zaghaften Schritte der Stadt in das neue demokratische Zeitalter im Sommer vor 70 Jahren berichtet die AZ-Serie „Harte Jahre“. Erinnern Sie sich ebenfalls noch an die ersten Monate oder unmittelbaren Jahre nach dem Krieg? Oder besitzen Sie alte Aufzeichnungen oder Fotos? Über Zuschriften würden wir uns sehr freuen!

Schreiben Sie uns – per Post: Abendzeitung, Lokales, „Kriegsende“, Garmischer Straße 35, 81373 München. Oder per Mail: lokales@az-muenchen.de

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