Sommer vor 70 Jahren - Arbeit statt Schule
Alle noch unterrichtsfreien Gymnasiasten vom Jahrgang 1928, die den „grauen Rock des Führers“ nicht mehr tragen mussten, haben sich „unverzüglich und vorbehaltlos“, wie die Militärregierung befiehlt, zum Arbeitseinsatz einzufinden.
Täglich muss ich also im Morgengrauen mit dem Radl hinaus zu Wolfra, einer Getränkefabrik am Stadtrand, wo Marmelade aus allerlei Früchten gerührt wird. Ständig muss ich mir das Gezänk zwischen dem kommunistischen Vorarbeiter und einem ebenfalls zwangsverpflichteten, ehemaligen Offizier anhören.
Doch die Arbeit ist nahrhaft: Ich kann nach Belieben in den Bottich greifen und naschen. Beim Säubern der Innenwand eines Silos, in dem Apfelschnaps gebrannt wird, haut mich der Alkoholdunst um.
Danach karrt man mich zur Ernte aufs Land, wo ja jetzt die „Fremdarbeiter“ und die „Prisoners of War“ fehlen. Bei Ampfing und Moorenweis schneide ich Klee fürs Frühfutter der Kühe, lade Getreidebündel auf, klaube Rüben, überfahre mit dem Leiterwagen versehentlich einen jungen Hund, der mir immer nachläuft. Die Verpflegung enttäuscht: fetter Schweinsbraten bei dem einen Bauern und Griesbrei beim anderen, und das Tag für Tag.
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Obendrein klaut mir jemand aus der Knechtkammer den Rest des großen Käselaibs, den ich am 1. Mai auf der Praterinsel geplündert habe...
Seit Ende Juli amtiert in der Wagmüllerstraße, wo heute der Politiker Edmund Stoiber für Brüssel tätig ist, der Suchdienst des Bayerischen Roten Kreuzes. Dort wird mir ein vergleichsweise leichter Job zugewiesen. Ich muss Hollerith-Karten mit Meldungen von suchenden und vermissten Personen ausfüllen und abgleichen. Andere Abteilungen des BRK, das Prinz Adalbert von Bayern leitet, befassen sich mit der Betreuung von Gefangenen und von Opfern der Naziherrschaft.
Es sind Aufgaben, die noch lange nicht bewältigt sein werden, weder in München noch überhaupt. Im Februar 1953 werden immer noch 1,3 Millionen deutsche Soldaten vermisst sein und in den Lagern von 16 „Gewahrsamsländern“ sind immer noch 83 683 Kriegsgefangene verschollen, über 70 000 allein in der Sowjetunion. 1973 kann der Suchdienst das einmillionste Vermissten-Schicksal klären. Die Klärung ist fast ausnahmslos eine Todeserklärung.
Der Sommer vor 70 Jahren endet mit drastischen Drohungen. Am 30. September gibt Radio München drei Mitteilungen der Militärregierung bekannt:
Erstens: Die Verkehrsbetriebe teilen mit, dass das Mitfahren auf Trittbrettern oder Pufferstangen von Straßenbahnen und Omnibussen mit Verhaftung und Bestrafung geahndet wird. Zweitens: Alle Arbeitskräfte, die von der Militärregierung durch ein Formblatt für die Winterholzbeschaffung eingeteilt werden, müssen dieser Aufforderung unbedingt nachkommen, bei unberechtigtem Fernbleiben werden sie polizeilich vorgeführt. Drittens: In den städtischen Friedhöfen nehmen mit Herannahen des Winters die Holzdiebstähle zu; die Täter werden strengstens bestraft.
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Doch diese Gebote und Verbote lassen die Münchner kalt. Angesichts des ersten „herannahenden Nachkriegswinters“ gilt in erster Linie das Überlebensprinzip. Gottlob droht jetzt keine Hungersnot mehr, nachdem aus bayerischen Dörfern 223 Wagenladungen mit Getreide eingetroffen sind. Jedenfalls soll die Brotversorgung bis Januar 1946 gesichert sein, meint der seit 14. September vom Informationsamt herausgegebene „Münchner Stadtanzeiger“.
Drei Tage später kann auch der Unterricht wieder beginnen, zunächst an den Volksschulen. Allerdings stehen nur noch die Hälfte der Schulhäuser und nach der Säuberung nur noch etwa 400 Lehrkräfte zur Verfügung.
Wir Oberschüler, jetzt vornehmer als Gymnasiasten bezeichnet, dürfen erst im Oktober wieder die Schulbank drücken, um uns mit alten und neuen Lehrern sowie mit provisorischen Schulbüchern in englischer Sprache aufs Abitur vorzubereiten.
Erinnerungen von Zeitzeugen
Über den Neuanfang nach dem Krieg, über die ersten zaghaften Schritte der Stadt in das neue demokratische Zeitalter im Sommer vor 70 Jahren berichtet in der AZ- Serie „Harte Jahre“ der Münchner Journalist und Autor Karl Stankiewitz (86), ein echter Zeitzeuge und AZ-Mitarbeiter seit 1948. Nur nebenbei: Er ist damit der älteste noch aktive Lokal-Journalist von ganz Deutschland.
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