Sommer vor 70 Jahren - Braten aus Niederbayern

Alle kämpfen ums Überleben – AZ-Leser Friedrich Oswald (77) kann sich an eine sehr denkwürdige Hamsterfahrt erinnern.
Friedrich Oswald |
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Überfüllte Personenzüge sind Alltag. Die Hauptsache ist, man kommt mit.
UIllstein Überfüllte Personenzüge sind Alltag. Die Hauptsache ist, man kommt mit.

An einem Sommertag in München im August 1946, ich war mittlerweile neun Jahre alt, machten sich meine Mutter und ich auf die Zweitagesreise nach Niederbayern auf Hamstertour. Hamstern war zu der Zeit verboten. Wurde man erwischt, war man die gehamsterten, teuer erkauften Lebensmittel los und wurde zur Strafe einige Tage eingesperrt.

Meine Mutter hatte sich einen großen dunkelgrünen Jägerrucksack mit vielen Taschen auf den Rücken geschnallt. Aus der Seitentasche des Ranzens ragte ein Stück vom Stiel eines großen und dicken Kochlöffels heraus. Wir hatten etwas zu Essen dabei. Ein Stück Brot, zwei gekochte Eier, die wir aus dem Topf mit dem Wasserglas entnommen und dann gekocht hatten, etwas Salz und zwei schrumpelige Äpfel. Am Hauptbahnhof angekommen verließen wir die Trambahn und suchten den Zug nach Straubing, der dann auch pünktlich abfuhr.

Der Zug fuhr langsam aus der Stadt an den vom Krieg zerbombten Stadtvierteln und den riesigen Schuttbergen vorbei. Etliche Male stieß die Dampflokomotive schwarze dicke Rauchwolken aus. Deshalb blieben auch die Fenster des Zugwaggons geschlossen, um sich nicht mit Rußpartikeln das Gesicht zu schwärzen. Bevor wir aus der Stadt fuhren und hinaus ins Land kamen, betätigte der Lokführer die Pfeife der Dampflok, als wollte die Zugmaschine sagen: „Wir verlassen die Stadt. Freut euch, wir fahren jetzt aufs Land.“ Während der Fahrt aßen wir ein Stück Brot und einen Apfel.

Gegen Mittag kamen wir mit dem Zug in Straubing an. Wir wurden kontrolliert und gefragt, wo wir hin wollen. Meine Mutter sagte dem Kontrolleur, dass sie ihre Schwester in Stallwang besuchen will. Das war gar nicht wahr, weil sie dort gar keine Schwester hatte.

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Wir fuhren mit dem Bummelzug nach Stallwang. Während der Fahrt holte meine Mutter ein Päckchen aus dem Rucksack . Aus dem Packpapier wickelte sie zwei gehäkelte, weiße und viereckige Tischdecken, legte sie wieder ordentlich zusammen und packte sie wieder ein. Meine Mutter sagte dann zu mir, dass wir für die Tischdecken vielleicht ein Stück Butter und zehn Eier bekommen. Wenn wir Glück haben, weil es Handarbeit ist, noch ein kleines Stück Geräuchertes dazu. Bei dem Wort Geräuchertes lief mir das Wasser im Mund zusammen. Ich stellte mir vor, wie gut mir das mit Brot schmecken würde. Ich hatte jetzt wieder großen Hunger. Mutter meinte, die gekochten Eier und das Brot heben wir uns für später auf. Nach einer Stunde Fahrt mit dem Zug stiegen wir in Stallwang aus und machten uns auf den Weg nach Utzmannsdorf zum Bauernhof der Familie Füchsl.

Bevor wir losmarschierten, tranken wir am Bahnhofsbrunnen. Da es sehr heiß war, nahm meine Mutter unsere Taschentücher und machte sie mit dem Brunnenwasser nass. Ich war froh, dass ich meinen kleinen grünen Filzhut auf hatte, der mich vor den Sonnenstrahlen schützte. Die kurze Lederhose war mir viel zu heiß. Ich konnte sie aber nicht ausziehen, weil ich dann unten nackt gewesen wäre, da ich keine Unterhose anhatte.

 

Der Ganter schnatterte erst – und zischte wie eine Schlange

 

Wir waren etwa eine Stunde auf der staubigen, heißen Landstraße unterwegs. Linkerseits sahen wir am Waldrand einen Bauernhof. Meine Mutter war da schon einmal und wollte hamstern. Sie musste aber unverrichteter Dinge wieder gehen. Man wollte ihr nichts geben. Die Straße vor uns machte einen kleinen Bogen und mündete in einem Hohlweg. Unerwartet vernahmen wir das laute Geschnatter von Gänsen. Als wir dann in den Hohlweg einbogen, kam uns die Gänseschar entgegen. Vorneweg der Chef der Gänse, ein Gänserich.

Der Gänserich nahm uns sofort wahr und begab sich in Angriffsposition. Der Gänserich watschelte schnellfüßig vor seinen Gänsen her. Er streckte seinen langen Hals waagrecht zum Körper nach vorne. Der Ganter öffnete seinen roten Schnabel, schnatterte kurz, zischte wie eine Schlange und äugte dabei nach den Beinen meiner Mutter. Ich hatte Angst und versteckte mich hinter ihrem Rücken.

Ich sah noch, wie meine Mutter hinter sich langte und den Kochlöffel aus dem Rucksack zog. Dann ging alles sehr schnell. Der Gänserich griff an. Meine Mutter erwischte den Hals des Federviehs unterhalb des Kopfes. Sie wickelte sie den Hals um den Kochlöffel des Zweifüßlers. Die Gans zappelte wie wild und versuchte, mit den Beinen um sich zu schlagen. Es gelang dem Schnabel nicht mehr, Hand oder den Arm zu erwischen. Dem Gänserich wurde regelrecht der Kragen umgedreht. Nach dieser Gegenwehr erschlaffte der Ganter. Er gab seinen Geist auf.

 

Nur mit Mühe passte das Tier in den Rucksack

 

Meine Mutter nahm den Rucksack von der Schulter und stopfte den toten Vogel hinein. Sie hatte Mühe, das Getier in dem Rucksack unterzubringen. Letztlich konnte sie ihn doch zubinden und den Latz mit dem Lederband durch die Schließe ziehen.

Der Kochlöffel, jetzt wusste ich, für was sie ihn verwenden wollte, kam wieder in die Seitentasche. Die Gänseschar rannte kopflos, jede Gans in eine andere Richtung, davon.

Wir gingen jetzt nicht weiter nach Utzmannsdorf, sondern zurück nach Stallwang. Niemand hielt uns auf. Wir erwischten den Zug zurück nach Straubing und den Anschlusszug nach München. Wir waren sehr aufgeregt über unseren Erfolg.

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„Fuchs, du hast die Gans gestohlen, gib sie wieder her!“, fiel mir spontan ein. Nur mit dem Unterschied, dass wir keine Füchse waren. Vor Anspannung vergaßen wir die Eier und das Brot. Essen konnten wir nicht, auch wenn wir Hunger gehabt hätten. Eier und Brot lagen unter der toten Gans. Wir hätten den Rucksack auspacken müssen, doch das hätte uns die Gans gekostet, falls wir erwischt worden wären. Die ganze Zeit über malte ich mir in der Trambahn aus, wie die Teile der gebratenen Gans auf meinem Teller aussehen könnten und wie ich dann in das saftige Fleisch hineinbeißen würde. Mir fiel dabei Wilhelm Busch ein, die Geschichte von Max und Moritz als Hühnerdiebe, die sich die gebratenen Hühner mit einer Angel aus dem Kamin holten.

 

Die Gans war sehr gut – und sehr knusprig

 

Die Gans war sehr gut und genauso knusprig wie in meiner Fantasie. Vom Gansjung machte meine Mutter ein Ragout. Das ausgelassene Fett reichte als Brotaufstrich.

Von der toten Gans träumte ich eine zeitlang, wie sie mich verfolgt und mir mit dem Kochlöffel droht.

 

Erinnerungen von Zeitzeugen

 

Über den Neuanfang nach dem Krieg, über die ersten zaghaften Schritte der Stadt in das neue demokratische Zeitalter im Sommer vor 70 Jahren berichtet in der AZ-Serie „Harte Jahre“ der Münchner Journalist und Autor Karl Stankiewitz (86), ein echter Zeitzeuge und AZ-Mitarbeiter seit 1948. Nur nebenbei: Er ist damit der älteste noch aktive Lokal-Journalist von ganz Deutschland. Erinnern Sie sich ebenfalls noch an die ersten Monate oder unmittelbaren Jahre nach dem Krieg? Ober besitzen Sie alte Aufzeichnungen oder Fotos? Über Zuschriften würden wir uns sehr Freude!

Schreiben Sie uns – per Post: AZ, Lokales, „Kriegsende“, Garmischer Straße 35, 81373 München. Oder per Mail: lokales@ az-muenchen.de

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