Sommer vor 70 Jahren - „Waren Sie in der Partei?“
Ludwig Kiesl, Jahrgang 1926, aus dem oberpfälzer Roding, wurde 1943 an die Front in die Normandie geschickt und kurz vor seinem 18. Geburtstag schwer verwundet. Er kam in Gefangenschaft nach England. Sein Sohn Alexander Kiesl hat die Erinnerungen seines Vaters aufgeschrieben – hier die letzten Tage der Kriegsgefangenenschaft und Heimkehr im Dezember 1945.
Nach einigen Tagen mussten wir weiter zum großen Entlassungslager nach Marburg an der Lahn. Hier wurden die deutschen Kriegsgefangenen, aus allen Ländern ankommend (England, Russland, ...) erfasst und verhört.
Der Boss war ein höherer, jüdischer Offizier. Im Freien mussten wir den Oberkörper freimachen, damit man sehen konnte, wer das SS-Zeichen auf dem Arm tätowiert hatte. Die es hatten, wurden abgeführt.
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Anschließend kam das Verhör. Neben dem Offizier standen eine Hitlerbüste und ein amerikanischer Soldat. Vor mir kam ein älterer Landser (aus russischer Gefangenschaft) dran. Er wurde gefragt: „Waren Sie in der Partei?“ – „Ja, ich musste.“ – „Kennen Sie diesen Mann?“, fragte der Offizier und deutete auf die Hitlerbüste. „Ja“, antwortete er. „Küssen Sie diesen Mann!“ Er neigte sich hin. In diesem Moment schlug ihn der Soldat auf den Hinterkopf, so dass er mit dem Gesicht auf die Büste flog. Dann zog ihn der Soldat hoch und gab ihm einen Tritt in den Hintern, dass er zur Tür hinausflog.
Nun war ich an der Reihe: „Waren Sie in der Partei?“ – „Nein.“ – „Waren Sie bei der Hitlerjugend?“ – „Nein.“ – „Waren Sie beim Jungvolk?“ – „Ja.“ – „Sie können gehen!“ Mir fiel ein Stein vom Herzen!
Ich fuhr schwarz – mit dem Seesack nicht gerade unauffällig
Am 16. Dezember 1945 – ich war seit zirka einer Woche im Marbuger Durchgangslager, einem Zeltlager, in dem wir bei Minusgraden auf dem blanken Fußboden bibberten – bekam ich den Entlassungsschein. Am Vormittag ging es mit einem Sonderzug Richtung Bamberg. Zwei Mitgefangene waren auch mit mir auf dem Weg in den Bayerischen Wald.
Kurz vor der Ankunft in Bamberg beschlich mich die Angst, ich könnte dort erneut aufgehalten werden; also beschloss ich, mich vorher davonzustehlen, wollte ich doch an Weihnachten Zuhause sein. Ich bestieg einen Zivilzug und fuhr das letzte Stück schwarz, obwohl ich in meinem langen Mantel und dem Seesack nicht gerade unauffällig war und die Leute mich alle anstarrten.
In Bamberg angekommen, erhielt ich am Bahnhof gegen Vorlage meines Entlassungsscheines eine Fahrkarte nach Roding. Ich nahm den nächsten Zug, der jedoch gegen 22 Uhr in Schwandorf endete. Einen Anschluss gab es um diese Uhrzeit leider nicht mehr, also verbrachte ich die Nacht zum Sonntag mit vielen anderen Flüchtlingen, Vertriebenen und Heimkehrern in der Bahnhofshalle.
„Der erste Zug Richtung Cham fährt gegen 11.30 Uhr, aber er hält nicht in Roding“, wurde mir gesagt. „Dann fahre ich eben durch bis Cham. Von dort aus ist es näher“, dachte ich. Als der Schaffner zur Kontrolle kam, sagte er zu mir: „Sie haben Glück! Heute hält der Zug zum ersten Mal nach dem Krieg wieder in Roding.“
„Es kommt Besuch für euch! Großer Besuch! Euer Sohn kommt heim“
Es war gegen Mittag. Nur eine ältere Frau stieg mit mir aus. Wir mussten zu Fuß vom Bahnhof nach Roding gehen. Die Frau erkannte an meiner Kleidung, dem Seesack auf dem Rücken, der Mütze – tief im Gesicht –, dass ich von der Gefangenschaft kam. Sie wollte Verwandte besuchen, die im gleichen Haus wie wir wohnten.
Roding war wie ausgestorben. Nur eine Frau ging über den Marktplatz. In der Chamer Straße stand dann noch mein Friseur Karl Gleixner mit seiner Frau vor der Haustüre. Sie Freude sich sehr, mich wiederzusehen.
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Zwischenzeitlich kündigte meine Begleitung bei mir Zuhause an: „Es kommt Besuch für Euch! Großer Besuch! Euer Sohn kommt heim.“
Ich schämte mich, weil ich Hochdeutsch statt Bairisch sprach
Meine Familie wusste ja nichts von meiner Rückkehr, und so war mir meine große Überraschung genommen. Trotzdem war die Freude riesengroß. In der Nachbarschaft hatte es sich rasch herumgesprochen und bis zum Abend war die ganze Bude voll.
Alle wollten wissen, wie es mir ging. Ich redete nicht viel. Ich schämte mich, weil ich Hochdeutsch sprach und meine Muttersprache verlernt hatte. Ich war ja immer unter Preußen.
Doch ich war froh, endlich wieder zu Hause zu sein.
Erinnerungen von Zeitzeugen
Über den Neuanfang nach dem Krieg, über die ersten zaghaften Schritte der Stadt in das neue demokratische Zeitalter im Sommer vor 70 Jahren berichtet in der AZ- Serie „Harte Jahre“ der Münchner Journalist und Autor Karl Stankiewitz (86), ein echter Zeitzeuge und AZ-Mitarbeiter seit 1948. Nur nebenbei: Er ist damit der älteste noch aktive Lokal-Journalist von ganz Deutschland.
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