Sommer vor 70 Jahren - Sich endlich etwas gönnen
Von 1945 bis 1946 herrschte Ausgangsverbot von 20 Uhr bis 7 Uhr früh. Die Amerikaner hatten Angst vor versteckten Nazis oder SS-Leuten. Meine Mutter entwickelte ihre eigene Strategie. Ab 20 Uhr fing sie an, die Straße vorm Haus zu kehren, was natürlich strikt verboten war. Es dauerte nicht lange, bis ein amerikanischer Jeep bremste. Mama tat so, als verstünde sie kein Wort Englisch und holte mich zum Übersetzen.
Anscheinend gefiel ihnen, was sie sahen – sie kamen jeden Abend und brachten Bohnenkaffee und Schokolade mit. Besonders nette Exemplare lud Mutter in die Wohnung ein und die Jungs, die meist von einfachen Farmen in Texas oder Alabama kamen, bestaunten wie kleine Kinder das schwere Renaissance-Mobiliar, Perserteppiche und Ölgemälde. So etwas hatten sie vorher noch nicht gesehen. Ich begleitete sie am Flügel, als sie voller Inbrunst ihre Songs schmetterten. Und Lili Marlen brachten sie mir auf Englisch bei – ich kann es noch heute.
Meinen späteren Mann Eugen lernte ich schon in der Schule kennen. Er war gut aussehend, spielte die Hauptrollen in den Klassikern am Schultheater und hatte dazu noch eine wunderschöne Gesangsstimme. Ich war ja drei Jahre jünger und dachte nicht im Traum daran, dass so einer, den ich kurzerhand noch als hochnäsig einstufte, mich überhaupt bemerken würde. Aber irgendwann sprang dann der Funke über.
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Als ich mit 18 Jahren schwanger wurde, heirateten wir. Die lieben Anverwandten beiderseits waren gründlich entsetzt. Mein Vater sagte nach der Trauung sogar, die Ehe sei ungültig, weil der Standesbeamte sich versprach und fälschlicherweise in alter Gewohnheit die Ehe „im Namen des Reiches“ schloss. Doch wir wollten fest zusammenhalten. 1950 wurde unsere Tochter Sigrid geboren, später folgte unser Sohn Werner und komplettierte das Glück.
Hunger, Entbehrungen und die Schrecken des Krieges in unserer Kindheit hinter uns lassend, wollten wir uns langsam im bescheidenen Rahmen etwas gönnen. Von der schlossartigen Villa meiner Kindheit in Traunstein brachte ich es mit meinem Mann schließlich zum ersten eigenen kleinen Reihenhäuschen mit „Handtuchgarten“ in Obermenzing. Unserer jungen Liebe erschien das erste eigene Heim mindestens auch wie ein Schloss. Eugen, der „begnadete Nichthandwerker“, baute das stabilste Terrassenmäuerchen, das die Welt je erblickte – andere handwerkliche Unfälle wollen wir gnädig vergessen.
Wir luden Freunde ein, machten viel Hausmusik (Klavier und Gesang), kredenzten Käseigel mit Weintrauben, russische Eier mit Silberzwiebeln und tranken Erdbeerbowle aus einer riesigen Keramikerdbeere. Das war „in“. Nur den damals üblichen Riesenglobus mit inwendiger Bar hatten wir nicht – das fanden wir zu dekadent.
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Mächtig stolz waren wir auch auf unser erworbenes Schleiflackschlafzimmer in hell mit Plüschbettumrandung und die alten, knarzenden, viel zu kurzen Biedermeierbetten von Oma flogen raus. Wir schmückten unser Heim, ich nähte Vorhänge, wir besorgten eine ausklappbare Gästecouch und richteten einen Partykeller ein.
Man hatte auch ein „Jeden-Tag-Geschirr“ und das „Gute Sonntagsservice“. Als wir mal einen großen Ehekrach hatten, zerdepperte Eugen in Machomanier wutentbrannt einiges Geschirr – vorsichtshalber hatte er aber heimlich altes, angeschlagenes aus dem Keller geholt.
Wir waren fleißig und sparsam und das Wirtschaftswunder funktionierte auch bei uns. So zogen wir in einen tollen Bungalow mit großem Garten in Eching am Ammersee um. Das war zwar ein Nervenkrieg, weil der Bauträger vor der endgültigen Fertigstellung pleite ging und verschwand, aber, auch mit Glück, konnten wir alles retten. Später übernahm Eugen als Direktor das große Arbeitsamt in Ingolstadt und wir siedelten wieder um in ein stattliches Anwesen.
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Auch auf unser erstes Auto sparten wir eisern. Ein Lloyd sollte es sein: Verunglimpft als „Zelluloidplastikbomber“, ähnlich luxuriös und komfortabel wie der Trabi – aber er fuhr. Meistens ...
Das erste Auto war wohl für alle Deutschen der Wunschtraum. Man verbesserte sich jedes Mal: Vom VW-Käfer (kaputte Keilriemen wurden kurzerhand durch einen Nylonstrumpf ersetzt) zum DKW, dann zum Opel Kapitän in Weinrot mit weißem Dach (todschick und das Höchste der Gefühle), später dann Audi. Immer größer, immer besser, immer moderner war die Devise. Man wollte sich etwas leisten können – zum Beispiel einen eigenen Fernseher.
Es war ein Grundigmodell, ein lackiertes Ungetüm von Schrank mit abschließbaren Türen und hinten eine Sparbox mit Münzeinwurf dran. Damals war Fernsehen noch etwas Besonderes, sodass sich die ganze Nachbarschaft davor versammelte und wir das einzige Fernsehprogramm bestaunten. Peter Frankenfeld war der Star und Eugen trat sogar in seiner Show auf und sang mit seinem schönen Tenor „Land so wunderbar“ von Meyerbeer.
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Wie wohl alle Deutschen waren wir neugierig auf fremde Länder, deren Kulturen und Menschen. Die allerersten Reisen der meisten Deutschen führten nach Italien (die Sehnsucht wurde kräftig genährt durch „Caprischlager“ aus dem Radio) und so zockelten auch wir im Kleinstwagen mit kochendem Kühler und quengelnden Kindern über den Brenner. Alle wollten ans blaue Meer. Venedig, Stadt der romantischen Träume, war damals fast noch beschaulich und nicht wie heute von riesigen Kreuzfahrtschiffen überrollt.
Anfangs schliefen wir höchst unbequem im Kleinwagen, aber wir kamen zum Gardasee, zum Lago Maggiore, nach Jesolo und sogar bis Monte Carlo.
Später war es dann Jugoslawien, ein noch zu entdeckendes Paradies mit einsamen Stränden und Inseln. Hotels waren uns noch zu teuer – man wurde privat weitergereicht. So landeten wir bei einem jungen Ehepaar in Split, heute Kroatien. Wir wurden aufgenommen wie uralte Freunde und nach reichlich Vino verstand man die Sprache des jeweils anderen immer besser. Abends verfrachtete man uns ins Schlafzimmer, am nächsten Morgen begriffen wir erst die Ausmaße dieser Gastfreundschaft: der ganze Familienclan lag zusammengerollt in der winzigen Küche auf dem blanken Fußboden.
Erinnerungen von Zeitzeugen
Über den Neuanfang nach dem Krieg, über die ersten zaghaften Schritte der Stadt in das neue demokratische Zeitalter im Sommer vor 70 Jahren berichtet in der AZ- Serie „Harte Jahre“ der Münchner Journalist und Autor Karl Stankiewitz (86), ein echter Zeitzeuge und AZ-Mitarbeiter seit 1948. Nur nebenbei: Er ist damit der älteste noch aktive Lokal-Journalist von ganz Deutschland.
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