Sexueller Missbrauch an Kindern bei den Zeugen Jehovas: Aussteiger aus München berichtet
München – Nur seine Oma hat er wirklich geliebt. Als Einzige in seiner Familie. Ob sie noch lebt? Thomas P. (37) weiß es nicht. Er hat keinen Kontakt. Eltern, Schwester, Oma, Onkel, Tanten – sie alle gehören zu seiner Vergangenheit. Zu den Zeugen Jehovas. Der Münchner, der seinen richtigen Namen schützen möchte, ist kein Teil mehr davon. Alle Verbindungen sind gekappt. Dadurch hat er erkannt, dass das Leben "viel bunter" ist, als man ihn glauben machen wollte. Die dunklen Flecken von früher sind aber nicht einfach verschwunden.
Der 37-Jährige ist nicht nur in der streng christlichen Gemeinschaft aufgewachsen, er ist dort in seiner Kindheit auch sexuell missbraucht worden. Von seinem eigenen Onkel. P. ist neun Jahre alt, als die Übergriffe beginnen. So erzählt er es der AZ. Sie alle lebten damals zusammen in einem großen Haus im Osten Deutschlands.
Der Onkel nutzte den gemeinsamen Fernsehabend zum Missbrauch
Die Eltern waren gläubig, der Mittwoch war für ihre Bibelstudien außer Haus reserviert. Die Oma kümmerte sich um die Kinder, ging selbst früh ins Bett. Dann lockte der Onkel seinen Neffen zum gemeinsamen Fernsehabend. Für ihn als Kind sei das etwas Besonderes gewesen. Wie eine Belohnung oder ein Geschenk. Im Nachhinein ein Mittel zum Missbrauch. Denn beim Filmeschauen blieb es auf Dauer nicht. "Erst waren es Berührungen, dann Ausziehen, orale Geschichten", schildert es P. Zum Sex selbst sei es nicht gekommen.
Vier Jahre lang, bis er 13 Jahre alt war, sei das so gegangen. Als Bub machte er sich durchaus seine Gedanken über den zudringlichen Onkel, zum Beispiel: "Normal ist das nicht, aber der wird schon wissen, was er tut. Er ist ja älter." Dennoch war ihm schon als Kind klar: "Es hat sich nie richtig angefühlt, es war auch Ekel dabei."
Ein Treffen mit einem Missbrauchsopfer führt zum Zusammenbruch
Wem sollte er sich anvertrauen? "Ich habe es immer für mich behalten." Verdrängt und ausgeblendet, jahrelang. Wenn er den Onkel später auf Familienfesten getroffen habe, überkam ihn ein unangenehmes Gefühl, das er nicht einordnen konnte: "Ich hatte eine innerliche Scheu und Abneigung, konnte mir das aber irgendwie nicht erklären."
Vor knapp 15 Jahren brachen seine Erfahrungen wie ein Vulkan wieder aus, als er zufällig auf einen Missbrauchsbetroffenen traf und diesem zuhörte. "Das hat mich so getriggert, dass ich umgekippt bin. Alle Bilder, alle Schockmomente waren wie ein Blitzeinschlag wieder da." Damals erfand er noch eine Ausrede, er habe an diesem Tag zu wenig getrunken und viel zu tun gehabt. Daher der Zusammenbruch. Das stimmte nicht.
Der Onkel will sich nicht an die Geschehnissen erinnern können
"Ab dem Moment waberte das immer mit." Heute fällt es ihm nicht mehr so schwer, darüber zu sprechen. Er hat sich Hilfe geholt, auch professionelle. Und er hatte eine Frau außerhalb der Zeugen Jehovas an seiner Seite, die seinen Mut wachsen ließ. "Man muss lernen, damit zu leben."
Der Missbrauch selbst ist nur die eine Seite. Die andere: der Umgang der Zeugen Jehovas damit. Als es endlich zu einem Gespräch innerhalb der Gemeinschaft gekommen sei, saß auch der Onkel mit am Tisch, während P. das Geschehene nochmal schildern sollte. Der Onkel habe sich laut P. auf Gedächtnislücken berufen. Er könne sich nicht erinnern. "Gibt es Zeugen?", wollten die Ältesten von P. wissen.
Da es keinen zweiten Zeugen gab, glaubten die Zeugen Jehovas die Geschichte nicht
Bei den Zeugen Jehovas gibt es die Zwei-Zeugen-Regel. Das bedeutet: Es muss eine zweite Person geben, die die Anschuldigung bezeugen kann. Gab es nicht. Zumindest wusste P. damals noch nicht, dass seine Schwester die Vorfälle mitbekommen hatte. Das gestand sie ihm erst später, sie war aber nicht bereit, für ihn auszusagen. Das würde Schande auf den Namen Jehova bringen, so erzählt P. ihre Erklärung.
"Ich kann teilweise sagen, was im Fernsehen lief – Baywatch. Ich kann sagen, wo der Fernseher stand, das Telefon, die Gerüche." Damit versucht P. zu verdeutlichen, dass er sich die Vorwürfe nicht ausgedacht hat. Doch Zeugen für den Missbrauch außer ihn selbst konnte er nicht nennen. Religionsrechtliche Konsequenzen für den Täter? Keine. "Ich war echt schockiert, obwohl ich fast damit gerechnet hatte, dass nichts passieren wird."
"Wo die Religion nicht wichtiger als die Kinder ist, wäre so etwas nicht passiert"
Auch die Familie wollte demnach nichts unternehmen. Seine Mutter habe ihn gefragt: "Willst du ihn anzeigen? Das muss doch nicht sein, wir sind Familie", erinnert er sich. Eine Strafanzeige stellte P. tatsächlich nicht. Doch es folgte der endgültige Bruch. Kein Kontakt, kein Lebenszeichen. Zum Geburtstag sowieso nicht, den feiern Zeugen Jehovas nicht. Genauso wenig wie Weihnachten oder Ostern. Nicht einmal, wenn die Oma sterben würde, könnte er sich vorstellen, dass seine Familie ihm Bescheid gibt.
Der Onkel als Täter. Ist das ein familiärer Fall von Missbrauch oder hat die religiöse Gemeinschaft einen Zusammenhang damit? P. verneint eine rein familiäre Angelegenheit. "Das ist nur passiert, weil die Eltern ständig auf den Bibelstudien waren. In einem behüteten Haus mit Eltern, denen die Religion nicht wichtiger als die Kinder sind, wäre so etwas mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht passiert." Sie hätten die Übergriffe sonst mitbekommen, glaubt der 37-Jährige.
Organisation fordern Entschädigungen für die Missbrauchs-Opfer der Zeugen Jehovas
Ein weiterer Faktor bei den Zeugen Jehovas, der aus seiner Sicht Missbrauch begünstigt: "Sex vor der Ehe ist verboten, ebenso Selbstbefriedigung, Pornografie, Homosexualität. Ich will niemanden verurteilen, aber es sind Menschen, die unter sexuell unterdrückten Rahmenbedingungen leben." Die Organisation JZ Help aus Hohenpeißenberg sieht die Problematik ähnlich: "Sexualisierte Gewalt gegen Kinder innerhalb der Gemeinschaft der Zeugen Jehovas hat stark mit der Struktur und Lehre der Organisation zu tun."
Demnach gab es in der Vergangenheit zwar leichte Lockerungen. "Betroffene sollen nicht mehr in Gegenwart der Täter und Täterinnen befragt werden und Angehörige können sie begleiten", heißt es auf der Seite von JZ Help. Die Organisation fordert auf ihrer Homepage nicht nur, dass die Zwei-Zeugen-Regel aufgehoben werden sollte sowie eine Entschuldigung und Entschädigung für Opfer, sondern auch, dass sofort eine Meldung bei den Behörden gemacht werden müsse, wenn es einen Hinweis auf sexualisierte Gewalt innerhalb der Zeugen Jehovas gebe.
Zahlen zum sexuellen Missbrauch gibt es bei den Zeugen Jehovas nicht
Die AZ hat schriftlich auch bei den Zeugen Jehovas angefragt, etwa, ob es Zahlen zu Missbrauchsfällen gibt, ob sie Aufarbeitungsprojekte durchführen oder wie es um die Zwei-Zeugen-Regel steht. Ein Sprecher teilt der AZ grundsätzlich mit: "Jehovas Zeugen verabscheuen Kindesmissbrauch und betrachten ihn als ein Verbrechen." Zahlen gibt es jedoch nicht: "Wir führen keine Statistiken über sexuellen Kindesmissbrauch."
Jeder Einzelfall werde – wenn der oder die Betroffene dies wünscht – individuell seelsorgerisch aufgearbeitet, heißt es in der Antwort weiter. Mehrfach wird darin betont, dass Betroffene Anzeige erstatten könnten und dafür "niemals" kritisiert würden. Erfuhren Älteste von einer Anschuldigung des sexuellen Kindesmissbrauchs, erfüllten sie jede gültige rechtliche Anzeigepflicht.
Ausstieg bei den Zeugen Jehovas: "Viele haben Angst, alles zu verlieren, du wirst geächtet"
Zur Zwei-Zeugen-Regel teilt der Sprecher mit: "Das biblische Erfordernis von zwei Zeugen, die sogenannte 'Zwei-Zeugen-Regel', betrifft nur die religionsrechtliche Entscheidung, ob der Beschuldigte aus der Gemeinschaft von Jehovas Zeugen ausgeschlossen werden sollte. Diese Überprüfung durch die Ältesten der Versammlung ersetzt in keiner Weise die Strafverfolgung durch die Behörden. Die Ältesten greifen nicht in die Strafverfolgung ein." Älteste beurteilten vielmehr, ob der Beschuldigte in der Versammlung, sprich der Gemeinde der Zeugen Jehovas, bleiben könne.
P. beschreibt den Druck eines Ausschlusses aus der Gemeinschaft: "Viele haben Angst, alles zu verlieren. Sie verlieren ihr Gesicht in der Versammlung der Zeugen Jehovas. Du wirst nicht mehr eingeladen, wirst geächtet." P. hat sich schon während der Zeit in der Gemeinschaft langsam ein Netz außerhalb aufgebaut, etwa bei der Feuerwehr.
Aufgearbeitet wird der sexueller Kindesmissbrauch bei den Zeugen Jehovas nicht
Später hat P. noch einmal mit dem Gedanken gespielt, seinen Onkel anzuzeigen. Doch es stellte sich heraus, dass die Taten mittlerweile verjährt sind. "Klar, dass der Staat irgendwann Grenzen ziehen muss. Solche Sachen sollten aber nicht verjähren, sondern gehören verfolgt." Was er anderen Betroffenen empfiehlt: reden! Am besten mit jemandem von außerhalb, dem man vertraut. "Sendet Zeichen, dass ihr Hilfe benötigt."
Anfangs fühlte er sich unwohl, wenn er an einem Info-Stand der Zeugen Jehovas vorbeikam. Heute schreitet er daran vorbei und lächelt. "Sie werden mich nie wieder davon überzeugen." Wie verbreitet ist Missbrauch bei den Zeugen Jehovas? Die Unabhängige Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs teilt der AZ mit: "Uns sind keine Studien oder Aufarbeitungsprojekte bekannt, die Auskunft über Zahlen zu sexuellem Kindesmissbrauch bei den Zeugen Jehovas in Deutschland geben. Auch die Polizeiliche Kriminalstatistik gibt darüber keine Auskunft."
"Sexueller Kindesmissbrauch findet in allen Bereichen unserer Gesellschaft statt"
Die Kommission verweist auf die Aufarbeitung in Australien. Seit 2013 führte die Royal Commission dort "die bislang wohl umfassendste Untersuchung" dazu durch. Dabei wurden Betroffene und Verantwortliche der Zeugen Jehovas befragt sowie interne Datenbanken und Akten der Organisation untersucht. Die Dokumente bezogen sich demnach auf mindestens 1800 Betroffene. Genannt wurden über 1000 mutmaßliche Täter.
Der Unabhängigen Kommission ist nach eigenen Angaben kein unabhängiges Aufarbeitungsprojekt in Deutschland bekannt, das durch die Zeugen Jehovas initiiert wurde. Grundsätzlich teilt eine Sprecherin der AZ mit: "Wir müssen davon ausgehen, dass sexueller Kindesmissbrauch in allen Bereichen unserer Gesellschaft stattfindet, so auch in der Gemeinschaft der Zeugen Jehovas." Ob die Zwei-Zeugen-Regel noch immer strikt Anwendung finde, sei nicht eindeutig geklärt.
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