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Geflüchtete in München spricht über Integration: "Integration ist keine Einbahnstraße"

Ein Geheimtreffen zwischen Rechtsextremen und Politikern schlägt hohe Wellen, gesprochen wird über "Remigration" und die Abschiebung von Millionen Ausländern aus Deutschland. Doch welche Bedeutung hätte die Deportation für die Menschen mit Migrationshintergrund? Eine von ihnen ist Eden Iyob. Sie leitet in München eine Kinderkrippe: Die Geflüchtete aus Eritrea erzählt in der AZ-Serie ihre Geschichte und beantwortet die Frage, warum sie für Deutschland wichtig ist.
Guido Verstegen
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"Es ist aktuell schwer, Personal in fast allen Berufsgruppen zu finden", sagt eine Caritas-Sprecherin der AZ. Das gilt insbesondere für Kitas und Kindergärten. (Symbolbild)
"Es ist aktuell schwer, Personal in fast allen Berufsgruppen zu finden", sagt eine Caritas-Sprecherin der AZ. Das gilt insbesondere für Kitas und Kindergärten. (Symbolbild) © Peter Kneffel/dpa

München - Der Begriff der Remigration wabert weiter durch die Republik, sorgt für Verunsicherung und schürt Ängste. Welche Folgen hätte es, wenn plötzlich alle ausländischen Mitarbeiter – in Bayern machen Ausländer fast 20 Prozent aller Arbeitnehmer aus – nicht mehr zur Verfügung stehen würden? Diese Frage schwirrt dieser Tage vielen Arbeitgebern in München durch den Kopf und bereitet so manchem Verantwortlichen sicher auch schlaflose Nächte.

Caritas-Altenheim in Gauting: 95 Prozent der Mitarbeiter haben einen ausländischen Pass

"Im Bereich der stationären Altenhilfe, also bei den Altenheimen, müssten wir dann ganze Wohnbereiche schließen", teilt eine Sprecherin der Caritas München und Oberbayern auf AZ-Anfrage mit. Und sie fügt hinzu: "Nähmen wir die Mitarbeitenden mit Migrationshintergrund dazu, müssten wir womöglich ganze Altenheime schließen." Im Caritas-Altenheim in Gauting haben demnach zum Beispiel 95 Prozent der Mitarbeiter einen ausländischen Pass und/oder Migrationshintergrund, im Bereich der stationären Altenhilfe besitzt die Hälfte der Caritas-Beschäftigten einen ausländischen Pass.

In der AZ-Serie sprechen Menschen, die einen Migrationshintergrund haben, und von der "Remigration" betroffen wären.
In der AZ-Serie sprechen Menschen, die einen Migrationshintergrund haben, und von der "Remigration" betroffen wären. © imago/AZ

Bezogen auf 10.000 Mitarbeiter im Trägerbereich des Diözesan-Caritasverbands haben den Angaben zufolge 27,5 Prozent einen ausländischen und 72,5 Prozent einen deutschen Personalausweis. Von den Deutschen wiederum leben etliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mit Migrationshintergrund. "Diese Daten können wir nicht erheben", so die Sprecherin.

Als Kind aus Eritrea geflüchtet: Eden Iyob geht in München ihren Weg

Diese Mitarbeiter sind in allen Bereichen der sozialen Arbeit beschäftigt, sei es innerhalb der Angebote für Menschen mit Behinderung, in der Sozial-Beratung, in der Flüchtlingshilfe – oder auch in den Kindertageseinrichtungen.

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Die AZ hat dazu mit Eden Iyob gesprochen, die seit 2005 die Caritas-Kinderkrippe Schmetterlingsbaum in Sendling leitet. Die 50-Jährige flüchtete 1984 als Analphabetin über den Sudan aus Eritrea, wuchs mit ihrer Mutter und zwei Geschwistern in Wangen im Allgäu auf und ließ sich nach ihrem Hauptschul-Abschluss in Lindau zur Kinderpflegerin ausbilden.

Sie holte die Mittlere Reife nach, machte anschließend die Ausbildung zur Erzieherin und bildete sich weiter fort. In ihrem letzten Anerkennungsjahr kam sie nach München, arbeitete von 1996 bis 2005 im Verein für Sozialarbeit e.V. – BMF mit unbegleiteten Flüchtlingen im Alter von 14 bis 21 Jahren. Heute ist sie unter anderem als Trainerin für interkulturelle Pädagogik und systemischer Coach unterwegs. Eden Iyob spricht neben ihrer Muttersprache Tingrinya auch Englisch und versteht zudem Arabisch. Sie ist Mutter eines Sohnes (21) und einer Tochter (12).

Eden Iyob erzählt von ihrer Flucht: "Ich hatte keine Kindheit"

Frau Iyob, wie ist es Ihnen in der ersten Zeit in Deutschland ergangen?
EDEN IYOB: Ich habe mich in den ersten zwei Jahren in Deutschland nicht wohlgefühlt. Als Analphabetin half es mir nicht, dass ich die Sprache nicht beherrschte und hier alles fremd war. Ich habe nie eine Grundschule besucht, daher fehlten mir die Grundlagen für effektives Lernen. Trotzdem wurde ich aufgrund eines Missverständnisses meiner Mutter in die sechste Klasse eingeschult. Ohne die ehrenamtliche Unterstützung einer Tagesmutter, die mir und meinem Bruder zum Deutsch lernen eine Nachbarin vermittelte, oder die Hilfe eines engagierten Mathematiklehrers, der immer versuchte, mich zum Lernen zu motivieren, hätte ich die Hauptschule nicht geschafft.

Eden Iyob flüchtete 1984 als Analphabetin aus Eritrea, heute leitet die 50-Jährige die Caritas-Kinderkrippe Schmetterlingsbaum in Sendling.
Eden Iyob flüchtete 1984 als Analphabetin aus Eritrea, heute leitet die 50-Jährige die Caritas-Kinderkrippe Schmetterlingsbaum in Sendling. © Guido Verstegen

Heute fragt sich Eden Iyob:"War ich irgendwann mal wirklich in solch einem Lager?"

Sie konnten jede Hilfe gebrauchen damals, erzählen Sie uns ein wenig von Ihrer Flucht aus Eritrea?
Ich hatte keine Kindheit. Denn ich wurde in einen Krieg geboren. Zwischen Eritrea und Äthiopien (vor 1974 noch Kaiserreich Abessinien) herrschte von 1961 bis 1991 ein erbitterter Unabhängigkeitskrieg. Als ich zwölf Jahre alt war, entschied sich mein Großvater – bei ihm sind mein zwei Jahre jüngerer Bruder und ich nach der Flucht meiner Mutter aufgewachsen –, uns zu Fuß an die Grenze zum Sudan zu bringen. Dort lebte ich fünf Monate in einem UN-Flüchtlingslager, bis wir nach Wangen ausreisen konnten. Voraussetzung für eine Familienzusammenführung mit meiner Mutter war eine Verzichtserklärung, dass sie keine staatlichen Mittel annehmen und ihre nachgezogenen Kinder aus eigenen Mitteln versorgen wird. Wenn ich aus meiner heutigen Lebenssituation zurückschaue, frage ich mich: "War ich irgendwann mal wirklich in solch einem Lager?"

Rechtes Gedankengut: "In gewisser Weise tragen die etablierten Parteien eine Mitschuld"

Als Sie das erste Mal von den Correctiv-Recherchen und vom Begriff Remigration gehört haben, was ging Ihnen da durch den Kopf?
Ich habe gedacht, Wahnsinn – die schmieden wirklich Pläne. Das war für mich beunruhigend. Es war ein Zeichen, dass diese Menschen nicht untätig bleiben und Ernst machen. Die Gedanken waren dann sofort bei meinen Kindern und deren Zukunft – einfach hart! Viele beklagen sich über ein mangelndes Bekenntnis zu Deutschland durch den Besitz einer doppelten Staatsbürgerschaft und fordern Remigration. Diese ist aber in meinem Falle keine freie Entscheidung, da Eritrea einen aus dieser nicht entlässt. Auch die Welt meiner Tochter veränderte sich durch die Recherchen, die innerhalb der Schule Diskussionen hinsichtlich potenzieller Abschiebungen lostraten.

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Wie konnte es soweit kommen, knapp 100 Jahre nach der Ernennung Adolf Hitlers zum Reichskanzler?
Dafür gibt es sicher viele Gründe und Ursachen. Was mir aber wichtig ist: In gewisser Weise tragen die etablierten Parteien in Deutschland eine Mitschuld, weil sie in den vergangenen Jahrzehnten die Migrationsthematik immer schon negativ besetzt haben. Migration betrifft aber nicht nur Geflüchtete, sondern beispielsweise auch den IT-Experten aus Indien, der abgeworben und hier gebraucht wird.  Medial höre ich nur von einem Geflüchteten oder einem Migranten, der kriminell ist und nicht von einem Migranten, der wie ich normal sein Leben lebt. Verweigerung hat noch nie geholfen, wir müssen stets für einen demokratischen Diskurs offenbleiben.

Geflüchtete in München: "Integration ist keine Einbahnstraße"

Welche Erfahrungen haben Sie mit rassistischen Diffamierungen und Beleidigungen gemacht? 
Mir ist es wichtig, dass mein Leben nicht aus einer Diskriminierungsaufzählung besteht. Natürlich erlebe ich das auch – das ist dann aber eher in der Verbindung mit Sexismus –, aber meine Kinder sollen ihren Hauptfokus nicht darauf ausrichten und sich nicht zum Opfer machen. Dennoch waren und sind insbesondere die Erfahrungen meines Bruders oder meines Sohnes extrem. Neben scheinbar normal gewordener polizeilicher Schikane kommen Diffamierungen in der Schule, in der Universität oder auch im Alltag beim Einkaufen hinzu.

Worauf kommt es aus Ihrer Sicht bei Integration an, was raten Sie Geflüchteten?
Zunächst will ich festhalten, dass Integration keine Einbahnstraße ist. Neben den Geflüchteten ist ein Mitwirken der hier lebenden Bevölkerung unverzichtbar. Ich rate trotzdem: Geht in Kontakt mit den Menschen, nutzt jede Gelegenheit, die sich Euch bietet! Am Ende des Tages leben wir in Deutschland – man muss da den Kontakt suchen. Verzweifelt nicht, wenn es nicht auf Anhieb funktioniert. Unterschiedliche Fluchterfahrungen können sich so traumatisch auswirken, dass das zunächst schwerfällt.

Geflüchtete Eden Iyob: "Mein Vorbild hilft und schafft eine Systemrelevanz"

Was sind Ihre Pläne für die Zukunft?
Einfach so weitermachen. Ich bin eine normale Bürgerin, die natürlich nicht pausenlos über Migrationspolitik nachdenkt. Dennoch ist mir stets bewusst, dass wir in einer unruhigen Welt leben. Genau das ist aber der Grund, weswegen ich unendlich dankbar bin, dass ich seit fast 40 Jahren in Frieden in Deutschland leben darf. Natürlich gibt es auch in Deutschland Menschen, die am Existenzminimum leben, das kann man sicher nicht leugnen. Aber am Ende des Tages steht doch fest: Ich lebe in einem Land, in dem ich keine Angst haben muss, dass ich noch heute mein Hab und Gut oder gar mein Leben verliere.

Was glauben Sie: Warum sind Sie wichtig für Deutschland?
Ich trage nicht nur aktiv zu der Gesellschaft bei – ob nun ehrenamtlich oder beruflich –, mein Vorbild hilft Menschen in ähnlichen Situationen und schafft eine Systemrelevanz. Wenn ich hier in der Kinderkrippe nicht auch mal selbst einspringen würde, weil es an Personal fehlt, dann müssten wir schließen und viele Eltern wüssten nicht wohin mit ihren Kindern. Ich bereichere demnach Deutschland. Im Gegensatz zu den ersten zwei Jahren fühle ich mich nicht mehr fremd, denn ich bin jetzt eine Deutsche.

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  • ChrisS am 13.03.2024 23:47 Uhr / Bewertung:

    Ich würde mir wünschen, dass hier in der AZ in den Artikeln unterschieden wird zwischen Asylanten, EU Flüchtlingen, nicht EU Flüchtlingen und illegalen Einwanderern. Dann wäre es einfacher, den Kontext zu verstehen. Sowie eine Unterscheidung zwischen denen, die schon lange hier leben und integriert sind und denen, die seit 2015 hier sind.

  • Der Pipopax am 14.03.2024 12:39 Uhr / Bewertung:
    Antwort auf Kommentar von ChrisS

    Ich bin im Kern ganz bei Ihnen. Aber was sind "EU Flüchtlinge" und "nicht EU Flüchtlinge"? Aus EU Ländern flüchtet doch niemand.

  • Der Münchner am 13.03.2024 13:16 Uhr / Bewertung:

    Müchen:
    Flüchtlingsunterkünfte sollen überall in der Stadt gebaut werden!
    Über 5000 neue Betten werden aktuell benötigt, zusätzlich zu en bereits vorhanden.
    Der soziale Wohnungsbau der Stadt und auch der Genossenschaften ist so gut ie zum erliegen gekommen.
    Richtig, der Asyland hat keinen Anspruch auf eine Sozialwohnung!
    Wenn Er aber anerkannter Asylant ist dann schon und Seine Verwanten auch.
    Möglicherweise ist das dann gut wenn der soziale Wohnungsbau stillsteht?
    Leider brauchen unser Alteingesessen des öffteren auch den sozialen Wohnungsbau!
    Bezahlbarer Wohnraum = viele Fachkräfte!
    Teurer Wohnraum = keine Fachkräfte!

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