München 1968: Parolen, Phrasen, Sponti-Gehabe

Für die radikalen Wortführer waren wir Journalisten nichts anderes als "Scheißliberale". Natürlich nahmen wir unsere Rolle in gewohnter Weise wahr: kritisch und distanziert. Dabei entpuppte sich manch schneidige Parole als pure Phrase. Manches Sponti-Gehabe – beispielsweise die Bemalung der Kunstakademie innen und außen– als spätpubertär und ordinär. Manch politisch verbrämter Aktionismus als Katz-und-Maus-Spiel. Berichtenswert waren die Ereignisse allemal. Einiges war aber auch bewundernswert. Insbesondere dieser unbeirrbare Mut zur Anarchie und zur Utopie, wie ihn mein Freund Sepp Raith in einem seiner Revoluzzer-Lieder so schön besingt.
So entstand bei nicht wenigen Reportern und Kommentatoren eine heimliche Sympathie für diese aufmüpfige Generation. Vielleicht dachten sie an ihren großen Ahnherrn Heinrich Heine, der 1843 im Pariser Exil angesichts demokratischer Umtriebe geschrieben hat: "Wird es wirklich wahr, dass das stille Traumland in lebendige Bewegung geraten?"
Bild, Merkur, SZ, AZ: Die Rolle der Medien
Allgemein aber schimmerte bei den Münchner Kollegen, wenn man sie später nach ihrer Einschätzung des Geschehenen befragte, bei viel Positivem doch auch Skepsis durch. So etwa bei Joachim Kaiser im November 2007. Nach Professoren-Art auf- und abgehend in seiner kleinen Redaktionsstube in der Sendlinger Straße, diktierte mir der gleichaltrige, inzwischen verstorbene Journalisten ins Notizbuch: "Im Gegensatz zu vielen jüngeren Intellektuellen und Redakteure war ich, wie auch etwa Günter Grass, der APO gegenüber sehr distanziert. Das hatte schlicht politische Gründe: Die damals aufkommende Herabwürdigung des parlamentarischen Systems quasi zur ,Quasselbude’ hat mich, den damals 40-Jährigen, doch sehr an Goebbels erinnert. Außerdem hat mir der Frontalangriff auf die ,Ordinarien-Universität’, der zum Teil freilich berechtigt war, grundsätzlich nicht gefallen. Denn das deutsche Bildungssystem der Hochschulen, das schon zwischen 1880 und 1925 als eines der besten der Welt galt, war auch in den 60er Jahren – das sage ich jetzt als Professor – jedenfalls besser als das, was wir seit den 70er Jahren haben, nämlich höchstens noch Mittelklasse."
Für die Münchner Medien war das Jahr eine ständige Herausforderung. Sehr unterschiedlich aber war die Art und Weise, wie die so komplexen Ereignisse in Presse und Funk dargestellt und kommentiert wurden. Von der Springer-Presse war keine Spur von Verständnis zu erwarten. Bildete der Konzern doch das – verbale und vorübergehend auch militante – Hauptangriffsziel jener jungen Rebellen, die sich insbesondere in der Bild-Zeitung immer wieder als "Linksfaschisten", "rote Horden" oder ähnlich angeprangert sahen. Übertroffen wurde diese Tonlage noch vom Zentralblatt der CSU, dem Bayernkurier, und von einigen dörflichen Mandatsträgern, die etwa in dem Soziologiestudenten Dutschke nur noch eine "verlauste und dreckige Kreatur" sahen.

Der Einfluss der politischen Provinz reichte bis in mediale Schaltstellen der Hauptstadt. Vier Tage, nachdem die Polizeiabteilung des bayerischen Innenministeriums die Weisung herausgegeben hatte, die Rundfunkanstalten seien "zu ausgewogener Berichterstattung zu veranlassen", entdeckte auch ein Kommentator des Bayerischen Rundfunks "eiskalte Revoluzzer-Visagen" (diese Worte sind im staatlichen Archiv von einem Beamten des Kultusministeriums farbig unterstrichen).
Bedenkenlos lieferten einige Redaktionen, so die der Quick, an die Ermittlungsbehörden strafrelevante Fotoabzüge aus, auf denen Demonstranten zu erkennen waren. "Dürfen sich 3.000 Demonstranten alles erlauben, ohne dass die Polizei einschreitet?", hetzte der sonst eher betuliche Münchner Merkur nach einer Kundgebung mit immerhin 10.000 Notstandsgegnern. Der Kommentator sah die "zulässige Grenze" überschritten und forderte die Polizei auf, ihre bisherige Zurückhaltung aufzugeben.
Frei von der allgemeinen Hetze waren vor allem Süddeutsche Zeitung, die meinen Berichten beispielsweise über das "Sit-in im Rathaus" und über die "Mao-Taktik der Polizei" viel Platz einräumte, und die geradezu studentenfreundliche Abendzeitung. Deren Verdienst sei es gewesen, meint der Historiker Günther Gerstenberg, dass in München die Aktionen gegen die Notstandsgesetze früher einsetzten als in anderen Städten und dass hier das öffentliche Klima toleranter war.
Eines Tages wurde auch die AZ belagert
Solidarisch lehnten jedoch alle Münchner Zeitungen eine bezahlte Anzeige ab, mit der Professoren, Anwälte, Schriftsteller und Künstler forderten, "den Springer-Konzern aufzulösen bzw. nach Maßgabe des Grundgesetzes zu enteignen".
Es kam vor, dass man als neutraler Beobachter unversehens in Aktionen einbezogen wurde. Einmal wartete ich in der Uni mit meiner dpa-Kollegin Suse Weidenbach stundenlang vor dem Rektorat in der Menge, die darauf bestand, dass sich der Rektor zur Diskussion stelle; doch der Mann mit dem Talar war gar nicht da.
Mit dem Kaltenecker Heini, einem alten Haudegen der Deutschen Presse-Agentur, begleitete ich in der Schwanthalerstraße einen großen Marsch. Plötzlich wurden wir beide vom Straßenrand weg eingefangen, untergehakt und eingereiht in die Zehnerkolonne, die mit "Ho-Ho-Ho-Tschi-Minh-Rufen" den Hauptbahnhof stürmte. Wir mussten mitstürmen. Als Polizeisirenen aufheulten, machten wir zwei Reporter uns schleunigst aus dem Staub. Ganz so ernst hatten es die "Besetzer" wohl auch nicht gemeint.
In dieser eher komischen als gefährlichen Situation fiel mir der in jener Zeit hoch im Kurs stehende Kommunist Lenin ein – mit seiner spöttischen Anmerkung: "Wenn die Deutschen eine Revolution machen, dann kaufen sie sich erst eine Bahnsteigkarte."
Auch mein Kollege Budzinski hat einmal den Bahnhof gestürmt, er allerdings ganz freiwillig: "Seit an Seit mit einem von der Schicht kommenden jungen Arbeiter und dem Regisseur Johannes Schaaf". Als damals Endvierziger, dessen Generation so brav die große Wende zu nutzen versäumt hatte, habe er als Spät-Achtundsechziger den Aufstand der Jungen ernster genommen als viele von ihnen ihn wohl meinten."

Eines Tages wurde auch die Abendzeitung in der Sendlinger Straße belagert. Die Demonstranten riefen den Chefredakteur dieses "scheißliberalen" Boulevardblattes im Chor herunter auf den Boulevard. Als Udo Flade nicht kam, machte sich der ehemalige AZ-Kulturredakteur und Kabarett-Kritiker Klaus Budzinski, von den marxistischen Ideen der jungen Stürmer erklärtermaßen angetan, zu ihrem Fürsprecher. Man vereinbarte ein Gespräch mit einer kleinen Delegation, wobei eine regelmäßige Kolumne, verantwortet von den Studenten, verlangt wurde. Flade stimmte unter der Bedingung zu, dass diese von allen sieben Wortführern unterschrieben werden müsse. Dazu waren die rivalisierenden Gruppen offenbar nicht in der Lage. Die Kolumne kam nie zustande.
Flade, Chefredakteur der AZ von 1961 bis 1986, sagte mir später: "Die Bewegung bekam eine unerwartete Dynamik. Das kam nicht schleichend, zeigte sich nicht irgendwie an. Es war wie eine Explosion, vorbereitet allenfalls in ein paar Köpfen. Plötzlich stand alles in Frage, die Professoren-Hierarchie in den Kliniken ebenso wie die Strukturen in Presse und Rundfunk. Deshalb waren auch wir Zeitungsleute unmittelbar betroffen, wir konnten gerade noch die radikalsten Forderungen abblocken. Es war allen Verantwortlichen klar, dass sich Entscheidendes ändern musste in der Gesellschaft. Fast jeder, der die Zeit begriff, hat daraus gelernt."
Ähnlich urteilte Thomas Gruber, Intendant des Bayerischen Rundfunks, von dem 12.000 Demonstranten am 28. und 29. Mai (vergeblich) eine Sendung gegen die Notstandsgesetze gefordert hatten: "Wenn die 68er-Bewegung auch viele Ziele nicht erreicht hat, so hat sie doch einen entscheidenden Anteil daran, dass seitdem in den Massenmedien über Protestereignisse und soziale Bewegung sehr viel selbstverständlicher berichtet wird als im Mai 1968."
Was sonst noch geschah
Während der Proteste ging das Leben in München seinen Gang – auch im Fußball.
In der Bundesliga-Saison wird der Stabwechsel zwischen den beiden Münchner vereinen endgültig vollzogen: Die Bayern sind 1968/69 vom ersten bis zum letzten Spieltag Tabellenführer. Am Ende beträgt der Vorsprung auf Vize-Meister Alemannia Aachen acht Punkte. Die Bayern gewinnen zudem den DFB-Pokal, womit erstmals seit 1937 (Schalke 04) das Double gewonnen ist. Erstaunlich: Bayern-Trainer Branko Zebec setzt in der gesamten Saison nur 13 Spieler ein.
Und die Löwen? Die verlieren in der Saison beide Derbys gegen die Bayern (0:2 und 0:3) und landen am Ende auf dem 10. Tabellenplatz.
München 1968: Die große AZ-Serie
Teil 1 der AZ-Serie: Die APO und die Opas
Teil 2 der AZ-Serie: Was für ein Theater!
Teil 3 der AZ-Serie: Lust- und Kriegsspiele
Teil 4 der AZ-Serie: Der Deifi is do
Teil 5 der AZ-Serie: Knast und Gewalt