München 1968: Was für ein Theater!

In der AZ-Serie geht es heute um Proteste an den Kammerspielen, tanzende Nackte - und um Rainer Werner Fassbinder.
Karl Stankiewitz |
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Ganz schön nackt: die "Hair"-Schlussszene im Theater an der Brienner Straße am 24. Oktober 1968.
2 Ganz schön nackt: die "Hair"-Schlussszene im Theater an der Brienner Straße am 24. Oktober 1968.
"Hair" – die Darsteller mischen sich unters Publikum.
2 "Hair" – die Darsteller mischen sich unters Publikum.

So laufen die Aktionen nicht auf einer Schiene, sondern parallel und manchmal gegeneinander. Während die Studenten auf ihre Weise demonstrieren und diskutieren, agieren ihre Gesinnungsgenossen von der Abteilung Kultur ganz anders.

Das staatliche Residenztheater eröffnet die neue Spielzeit durch eine (so der damalige Kulturreferent Herbert Hohenemser) "geballte Ladung" neuer deutscher dramatischer Literatur: mit Uraufführungen von Sperr, Amery, Walser, Dürrenmatt.

Die städtischen Kammerspiele wagen mehr. Mitglieder des Ensembles starten eine Protestaktion gegen die in Bonn geplanten Notstandsgesetze. Zehn Minuten werden die Aufführungen der "Schwarzen Komödie" von Shaffer im Schauspielhaus und "Im Dickicht der Städte" vom noch verrufenen Brecht im Werkraumtheater unterbrochen. Schauspieler, Regisseure und Bühnenarbeiter treten an die Rampe und fordern das Publikum zur Diskussion auf.

Während die Demonstration im avantgardistischen Werkraumtheater am 23. Mai - am selben Tag wird der konservative AStA gestürzt - mit Beifall bedacht wird, reagiert das Parkett im gutbürgerlichen Schauspielhaus mit Buh-Rufen und Pfiffen. Obwohl Staatsschauspieler Hans Clarin erklärt: "Dies ist eine Demonstration, die sich nicht gegen Sie, sondern an Sie richtet."

Eine Protesterklärung gegen die Notstandsgesetze wird verlesen, aber kaum gehört. Schließlich werden alle Kollegen an den Theatern der Bundesrepublik zu "politischen Warnstreiks" auf der Bühne aufgerufen.

Am 5. Juli 1968 erreicht das Revolutionsspiel seinen Höhepunkt. Erstmals in Deutschland wird im Werkraumtheater ein Stück aufgeführt, dem der Autor Peter Weiss einen holprig langen Titel gab: "Diskurs über die Vorgeschichte und den Verlauf des lang andauernden Befreiungskrieges in Vietnam als . . ." (es folgten noch weitere Titelzeilen).

Ganz schön nackt: die "Hair"-Schlussszene im Theater an der Brienner Straße am 24. Oktober 1968.
Ganz schön nackt: die "Hair"-Schlussszene im Theater an der Brienner Straße am 24. Oktober 1968.

Der junge Peter Stein, der bereits mit einer von Martin Sperr geschriebenen bayerischen Mundartfassung von Bonds "Gerettet" eine Rockerbande aufs geschockte Publikum losgelassen hatte, will mit seiner Inszenierung das Theater vollends politisieren und die Zuschauer provozieren.

Stein verfremdet seine Schauspieler - darunter der Berliner Oberprovokateur Wolfgang Neuss - durch schreckliche Masken, lässt sie lärmen und toben und hinterher für die vietnamesischen Befreiungskrieger sammeln. "Für eine Rakete" kommen auch tatsächlich über 500 Mark zusammen. Drei Tage später besetzen junge Leute das Schauspielhaus mittels "Sit-in". Doch dem grundliberalen Intendanten August Everding geht derlei Engagement zu weit. Und Stein, der Vorreiter des Agitprop-Theaters, geht verbittert nach Berlin.

Im Landtag ertönen indes Warnungen vor einer "Volksdemokratisierung" des Münchner Theaters, welches obendrein die echten bayerischen Volksstücke und die deutschen Klassiker vernachlässige.

Ironisch empfiehlt die Abendzeitung: Wenn man schon eine Bayernmannschaft auf der Bühne vermisse, dann solle man sich im Landtag endlich für einen staatlichen Komödienstadel entschließen und auf jede geistige Auseinandersetzung im Theater verzichten.

So wird 1968 auch zum Jahr des revolutionären Theaters. Eine Bühne geht dazu über, anstelle einer Aufführung nur noch gegen die Notstandsgesetze zu agitieren. Ein "Sozialistisches Theater" geht mit einer Aufklärungskampagne gleich auf die Straße.

"Viele der Linken von 1968 sind später nach rechts marschiert"

In der Müllerstraße gründet Rainer Werner Fassbinder mit einer wilden Truppe ein "Antiteater". Die deutsche Erstaufführung des Hippie-Musicals "Hair" im Haus des Sports löst wahre Stürme der Begeisterung aus, während Reiner Uthoff in seinem "Rationaltheater" durch unschöne Dokumente über Bundespräsident Heinrich Lübke eine Polizeiaktion auslöst. Uthoff vor zehn Jahren: "Es kam, wie 68 nicht verhindert."

"Die Studenten gingen erst auf die Straße, als es zu spät war," meinte auch Dieter Hildebrandt († 2013), als der Schreiber dieser Zeilen ihn vor Jahren in seinem Schwabinger Kabuff um einen Rückblick bat. Mit ihrem Programm "Die Pharisäer proben den Notstand" hatte seine Münchner Lach- und Schießgesellschaft die Notstandsgesetze lange vor den jungen Rebellen angegriffen und mit "Wir werden uns schon schaffen" die Umweltgefährdung, die für die APO überhaupt kein Thema war. Aber weil dieses Kabarett schon seit zwölf Jahren spielte und auch im Fernsehen auftrat, so Hildebrandt, habe es halt gnadenlos zum "Establishment" gezählt.

"Hair" – die Darsteller mischen sich unters Publikum.
"Hair" – die Darsteller mischen sich unters Publikum.

"Hair" – die Darsteller mischen sich unters Publikum. Foto: Ullstein

Mit Erstaunen bemerkte mein Gesprächspartner auch, "dass die deutschen Akademiker, die jungen wie die alten, an den wirklichen Problemen des Landes vorbeimarschierten und dass viele der besonders linken inzwischen nach rechts marschiert sind". Gesprochen im Herbst 2007 - als die ersten Überfälle und Morde rechtsradikaler Banden ruchbar wurden.

Auch die Filmwelt gerät in erhebliche Unruhe und fördert sie noch. In diesem Jahr sind plötzlich acht Produktionen mit politischer Tendenz geplant, darunter so sozialkritische wie "Jagdszenen aus Niederbayern" nach Martin Sperr unter der Regie von Peter Fleischmann, der außerdem "Das Unheil" drehen will.

Andere neue Regisseure heißen: Rainer Erler, Roland Klick, Volker Vogeler, Marran Gosov und Franz-Josef Spieker. Einige Filmer brachten freilich nur Flops zustande, andere gingen buchstäblich in den Untergrund.

Der 30-jährige Michael Verhoeven, dessen Debüt "Paarungen" von Kritik und Publikum gelobt wurde, plante vier Fortsetzungen, darunter einen Film über die "Weiße Rose". Für ihn und eine ganze Generation, so begründete mir Verhoeven in einem persönlichen Gespräch später sein bis heute andauerndes Engagement, sollte nach einer langen muffigen Periode endlich Schluss sein mit dem ewigen Leugnen und Verdrängen geschichtlicher Wirklichkeit.

Gegenwartsfilme - und darin unterschied er sich damals von den Kollegen des sogenannten "Jungfilms" - müssten allerdings nicht unbedingt in der Gegenwart spielen.

In Erinnerung an den von Schauspielern inszenierten Skandal vom Januar 1968 laden die Münchner Kammerspiele ab 8. Februar an acht Abenden zur öffentlichen, künstlerischen Auseinandersetzung mit "Themen und Fragestellungen der bewegten Zeit”.

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