München 1968: Polizei als Schutzengel

Die Studenten gehen oft auf die Straße. Dass die Demos nicht eskalieren, liegt an einer neuen Strategie der Polizei: Kriminaler als Helfer.
Karl Stankiewitz |
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Bei dieser Demo treten ein paar Münchner Studenten in der Feilitzschstraße den Sitzstreik – die Polizisten bleiben gelassen.
imago Bei dieser Demo treten ein paar Münchner Studenten in der Feilitzschstraße den Sitzstreik – die Polizisten bleiben gelassen.

Im Kasperltheater gibt es eine Figur, die immer wieder Ruhe ins Chaos bringt: der schneidige Schupo. Im Münchner Studententheater von 1968 war diese Rolle besetzt mit Dr. Manfred Schreiber, Polizeipräsident von Ende 1963 bis 1983. Dem damals 40-jährigen Kriminaler gebührt das Hauptverdienst daran, dass die Demonstrationen und Provokationen nahezu gewaltfrei verlaufen sind.

Mit Ausnahme allerdings der österlichen Ausschreitungen mit Todesfolge in der Schellingstraße und einiger Prügelszenen, in die aber mehr die blutjungen, meist von auswärts angeworbenen Männer der Bayerischen Bereitschaftspolizei verwickelt waren. Diese Einheit unterstand der CSU-Landesregierung, die 7.000 Mann starke Schutz- und Kriminalpolizei dagegen noch (bis 1975) der rot-schwarz regierten Landeshauptstadt.

Schreiber, der sich gern "Schandi" nennen hört, verantwortet die oft als "weiche Welle" missverstandene "Münchner Linie". Sein Motto fasziniert die ordnungsgewöhnte Republik: "Mir san liberal, aber net bläd." Die blau uniformierten Hüter der Ordnung begegnen den oft kostümierten Störern der Ordnung mit neuartigen Strategien. München hat zu dieser Zeit – das erkennt sogar der rebellische und später terroristische AstA-Vorsitzende Rolf Pohle an – "die fortschrittlichste Polizei Deutschlands", die laut Pohle allerdings grundsätzlich danach unterscheide, ob eine Demo staatstragend sei oder nicht.

Während die Schupos in Berlin noch mit Tschako wie bei Kaisers aufmarschieren und notfalls mit dem Knüppel "feste druff" hauen, hat man in München aus den Schwabinger Krawallen vom Sommer 1962 gelernt.

Aus Streitmacht wird Schutzmacht

Nicht ohne Zutun des jungen Oberbürgermeisters Hans-Jochen Vogel wird die Polizei gründlich umgerüstet und abgerüstet. Aus der Streitmacht wird eine Schutzmacht, für viele eine Art Schutzengel. Und erstmals wird ein Polizeipsychologe in die Ettstraße berufen. Er heißt Rolf Umbach. Aus wissenschaftlichen Theorien entwickelt er die These, dass die "Masse Mensch" ein prinzipiell gutmütiges Tier sei, das durch Imponiergehabe gezähmt werden könne. Umbachs Ideen sind noch kaum umgesetzt, da wird er nach Kabul berufen. Er soll nun die afghanische Polizei psychologisch schulen, hat es aber dort zunächst eher mit dahergelaufenen Hippies zu tun und noch längst nicht mit den hochgefährlichen Taliban.

Als Nachfolger holt Präsident Schreiber ausgerechnet einen Abkömmling des SDS, dem Kader des Widerstands mit 2.000 Mitgliedern bundesweit. Dieser junge Polizeipsychologe Georg Sieber bringt neue Ideen mit, die er dem chinesischen Revolutionsidol Mao Tse Tung abgewonnen hat. "Integrierter Einsatz," nennt er es. "Wie Fische im Wasser" sollen sich Polizisten in der gegnerischen Masse bewegen.

Infiltration statt Konfrontation war die Devise. Ein Polizeibeamter, er heißt Mayer, wird sogar beauftragt, sich in die Studentenstürme einzureihen, untergehakt und natürlich in Uniform. Da kann wohl – oder soll jedenfalls – nicht mehr viel passieren.

Über den anhaltenden Erfolg schrieb mir Sieber vor zehn Jahren aus Berlin, wo er inzwischen eine "Intelligenz System Transfer GmbH" leitete: "1968 war ein gutes Jahr für die Münchner Polizei. Die Übermachtdoktrin bröckelte. Wasserwerfer, Berittene, Hundestaffeln und blaulichtglitzernde Mannschaftsfahrzeuge samt mobilen Barrieren wurden Schritt für Schritt zurückgenommen. Der Polizeibeamte als kompetenter Ordner, als Garant für körperliche Ordnung wurde wiederentdeckt."

Polizeiausbildung mehr psychologisch als militärisch

Auch der Münchner Soziologe Albrecht Goeschel, der eine "Studiengruppe für Sozialforschung" leitet, entwirft in einer Ende Mai 1968 vorgelegten Untersuchung das Bild einer neuen Polizei, die durch mehr psychologische als durch militärische Ausbildung gekennzeichnet sei. Sie ermögliche einen Einsatz auch gegen Arbeitgeber und vermeide – wie bei "Notstand" geplant – Einsätze der Bundeswehr im Inneren.

"Die Polizei darf die Unruhe nicht stören" Allerdings, so Goeschel im Gespräch, sei diese Reform wieder gefährdet, etwa durch die Diskussionen über eine Ausrüstung der Polizei mit Elektrostöcken und anderen, scheinbar "humanen" Anti-Demonstrations-Waffen in bürgerkriegsähnlichen Situationen.

Frühzeitig erkennt Polizeipräsident Schreiber, der selbst einmal AstA-Vorsitzender an der Münchner Universität war, in den studentischen Unruhen eine "echte prärevolutionäre Phase", wie er mir später gestehen wird. Jedenfalls will er rechtzeitig vorbeugen.

Schon im März 1968 diskutieren er und Oberbürgermeister Vogel mit einigen der deutschen Studentenführer. Bei dem Sit-in im verschnörkelten Rathaussaal bietet er den radikalen Funktionären keinerlei Reibungsfläche, sondern erklärt: "Die Polizei darf die Unruhe nicht stören." Auch die Verabschiedung klingt ungewöhnlich: "Kommen Sie öfter zum Diskutieren zu uns – möglichst freiwillig ..."

In ungewöhnlicher Weise greift Schreiber, der einmal einen Störer eines Schah-Besuchs am Kragen abgeführt hat, öfters mal ins Geschehen ein. Über eine nicht ganz dienstgemäße Begegnung erzählt er mir später: Als der ungebärdige Fritz Teufel wieder mal in Untersuchungshaft im Polizeipräsidium weilt, besucht er ihn abends in der Zelle, mit einer Whiskyflasche in der Hand, und stellt sich vor: "I bin der Polizeichef und dad gern mit Eahna redn."

Die Antwort klingt schwäbisch: "Scho guat, Kamerad. Hab eh grad nix zu tun." Sie reden über Berlin und Schreiber animiert: "Fahrn’S halt wieder hi, is doch aa schee dort." Darauf packt Teufel ein Stück Lebensgeschichte aus. Schreiber 2008: "Ich schenkte noch ein Glas ein und dachte: Der Mann gehört eigentlich nicht ins Gefängnis, sondern in psychotherapeutische Behandlung."


Ein Macher: Polizeipräsident Manfred Schreiber am Ort des Geschehens. Foto: imago

Der Polizei-Psychologe verlässt München schließlich nach Bonn 

Schreibers Schlussbilanz, 2008 für mein 68er-Buch formuliert: "Wir haben uns auch durch extreme Reaktionen nie zu ebensolchen Gegenreaktionen verleiten lassen. Aber wenn es nötig war, haben wir auch den unmittelbaren Zwang angewandt, verbunden mit der Verfolgung durch Staatsanwalt und Richter, die allein zuständig waren. Keinen Augenblick durften wir die Rechtsstaatlichkeit verlassen."

Bliebe nachzutragen: OB Vogel will seinen Vertrauten Schreiber zu seinem Nachfolger aufbauen. Die SPD stimmt zu, aber Genosse Schreiber tritt wegen Differenzen in Sicherheitsfragen (die Jusos beschimpften ihn nach einem missglückten Einsatz beim ersten Geiselmordfall als "Kugel-Schreiber") aus seiner Partei aus. Er verlässt die geliebte Isarstadt, um in Bonn unter CSU-Innenminister Zimmermann die Verantwortung für das Bundeskriminalamt und den Bundesgrenzschutz mit insgesamt 25.000 Mitarbeitern zu übernehmen. Nach München kommt er noch oft, um als Professor an der Uni über Kriminologie zu lesen. Er stirbt hochbetagt am 6. Mai 2015.

Nachtrag: Der Polizei-Soziologe Professor Albrecht Goeschel erkennt den Münchner Reformen von 1968 einen hohen politischen Stellenwert zu. "Aus heutiger Sicht" schreibt er mir 40 Jahre später: "Soweit es die Polizeientwicklung betrifft, hat sich das Gefahrenbild zuerst in Westdeutschland und dann auch in Ostdeutschland zweifellos vom ,Volksaufstand’ verabschiedet. München wurde in den späten 60er Jahren zum Modell für das Deutschland der sozialliberalen Reformen und für die Gesellschaftspolitik der 80er Jahre."

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