München 1968: Die Rezepte der Politiker
Sie stehen gewissermaßen zwischen den Fronten, zwischen Protestbewegung und Polizei: die Politiker. Allen voran Münchens Oberbürgermeister Hans-Jochen Vogel, am Beginn des Unruhejahres gerade mal 41 Jahre alt und herausgefordert, 1972 Olympische Sommerspiele beherbergen zu müssen. Sein Schlüsselerlebnis hat er am 7. März, als er sich, zusammen mit seinem Polizeipräsidenten Schreiber, 200 Repräsentanten des Verbands Deutscher Studentenschaften aus dem ganzen Bundesgebiet und Westberlin im Rathaus zur Diskussion stellt.
In Erinnerung blieb ihm, wie er in seinem Buch "Die Amtskette" schrieb, "der Fanatismus, die Unduldsamkeit und die absolute Humorlosigkeit der meisten Sprecher". Rückblickend erkennt Vogel der 68er-Bewegung aber durchaus eine Aufbruchstimmung zu und gibt ihr in einem Punkt Recht: im Widerstand gegen den Vietnam-Krieg. Das Gespräch endet gegen Mitternacht unentschieden.
Wenige Tage nach dem todtraurigen Oster-Ereignis trifft man sich wieder. "Gibt es einen neuen Anfang?"- darüber soll auf der Großkundgebung miteinander geredet werden. Auf dem Königsplatz stehen sich führende Politiker und eine riesige Menge von etwa 10.000 Jungakademikern gegenüber. Ich erlebe ein wüstes Pfeifkonzert, Schuldzuweisungen, Buh-Rufe. Erstmals sind Polizisten in die Reihen der potenziellen Unruhestifter "eingesickert". Geduldig beantwortet Vogel alle Fragen zu dieser neuen Psycho-Taktik. Er übt sogar etwas Selbstkritik.
Aufmunternd ruft der junge Oberbürgermeister den noch etwas jüngeren Leuten zu: "Die Energien, die jetzt freigeworden sind, sollten nicht zerstören, sondern aufbauen." Vogel warnt aber zugleich: "Die Extremisten, von denen wir hier eine Kostprobe erlebten, sehen in diesen Tagen ihre Saat reifen und warten auf ihre Stunde." Mein Kommentar damals: "Kein Friedensschluss, aber immerhin ein Waffenstillstand an einer der heißesten Frontabschnitte des latenten Bürgerkrieges."
Die meisten Politiker verschanzen sich erstmal. Einige kläffen: Was wollen denn diese Grünschnäbel, die keine Ahnung von praktischer Politik haben? Ja, sie wollen viel, allzu viel: eine gründliche Reform ihrer Hochschulen, und zwar sofort, denn "der Muff von tausend Jahren steckt unter den Talaren".
Nach und nach werden weitere Forderungen laut: Weg mit den falschen Autoritäten überall in der Gesellschaft! Weg mit drohenden Notstandsgesetzen! Weg mit alten und neuen Nazis aus wichtigen Positionen! Weg mit Kriegen und Ausbeutung in der Dritten Welt! Mehr Demokratie wagen - das Brandt-Wort von 1969 liegt längst in der Luft.
Das neue Feindbild heißt "Establishment". Und dazu gehört die komplette SPD-Führung, die auch mit ihrem neu gegründeten Hochschulbund SHB Krach hat und mit ihren Jusos noch viel mehr. Im Rückblick von 2008 erscheint dem bayerischen Juso- und späteren Landesvorsitzenden Rudolf Schöfberger der "Aufstand von 1968 als ein Stück deutscher Demokratiegeschichte".
Aber auch der damalige CSU-Innenminister Bruno Merk erkennt die "APO-Jahre" im Nachwort für mein Buch als legitime Antwort auf das Versagen der Politik beim Durchsetzen überfälliger Reformen.
Progressive Kräfte rühren sich auch in der CSU. Der 23-jährige Vorsitzende der Jungen Union Münchens, Richard Heger, lässt offen Sympathie für die "marxistische Schule" erkennen, er fordert Umverteilung des Volkseigentums und umfassende Mitbeteiligung. Strauß bestellt deshalb den Landesvorsitzenden der JU, Adolf Böswald, zum Rapport ins heimatliche Rott am Inn. Doch der, Schwabe wie Innenminister Merk, gibt nicht klein bei, vielmehr will er die christlich-soziale Jugend "aufgeschlossener und beweglicher" machen.
Böswald, der spätere Ämterangebote von Strauß ablehnt und lieber 32 Jahre lang Oberbürgermeister von Donauwörth ist, stimmt 2008 bei meiner Umfrage ein großes Loblied an auf die "jungen Leute in Familie und Beruf, in Staat und Kirchen, die angefangen haben, nachzudenken und zu hinterfragen, die Verkrüppelungen und Fixierungen im Denken und Handeln abschlagen wollten". Sie seien die eigentlichen "68er-Menschen, auf die es in allen Schichtungen des Lebens ankommt."
Doch der große Vorsitzende sieht alles anders. Er hat schon am 9. Februar 1968 "linksradikale studentische Minderheiten" verantwortlich gemacht für die "Störkrawalle". Mit allen Mitteln sei dagegen einzuschreiten, so hat Strauß den Ministerpräsidenten Alfons Goppel aufgefordert. Goppel verbietet sich vier Tage später diese "im Telegrammstil" abgefasste Intervention, um selbst aber nach den Osterunruhen juristische Folgen anzudrohen für das Treiben eines "Häufleins Zügelloser", das den Staat "kaputtmachen" wolle.
Anfangs glaubt die CSU-Regierung noch, potenzielle Aufrührer durch ein sublimes Zusammenspiel der Zuständigen im Griff zu haben. So übergibt das Innenministerium Mitte April zwei von der Münchner Kriminalpolizei erstellte Listen mit Personalien von 134 Studenten und Schülern, die bei Protestaktionen strafrechtlich aufgefallen waren, an das Kultusministerium mit der Bitte, disziplinarische Maßnahmen zu prüfen. Während Merk im Landtag eine Lanze für die verfemten "Langhaarigen" bricht, bereiten Mitglieder der CSU-Fraktion ein Gesetz "zur Sicherheit und Freiheit von Lehre und Forschung" vor.
"Den Muff austreiben": Pornofilme in der katholischen Akademie
"Dem ganzen Spuk linksradikaler Studentenparlamente und linksradikaler Astas wäre bald ein Ende bereitet," appelliert der Würzburger Abgeordnete Professor Friedrich August von der Heydte ans Kultusministerium, das nun tatsächlich einen Gesetzentwurf ausarbeitet - aber wieder zurückzieht. Stattdessen kommen Spitzenvertreter von Hochschulen und Polizei überein, bei "extremistischen Umtrieben" auf Universitätsgelände besser zusammenzuarbeiten. Vereinzelt tauchen auf Hochschulseite sogar Ideen von "Selbstschutz" auf. So schlägt der Philosophie-Ordinarius Max Müller allen Ernstes vor, im Flur zwischen Rektorat und Aula Brausen zu installieren, um unliebsame Besucher durch Wasserstrahl "zurückzuschlagen".
Den bevorstehenden Wahlkampf will die CSU, wie ihr Generalsekretär Max Streibl vorschlägt , vorwiegend mit Hinweisen auf die "Gefahr von links" und die vermeintlich bürgerfreundlichen Gegenmaßnahmen bestreiten. Ein äußerst massives Vorgehen wird zwar in Regierungskreisen erwogen, scheitert jedoch an einer liberalen, in der Öffentlichkeit unbemerkten Stammtisch-Runde: Regelmäßig treffen sich im Trinkstüberl des Rathauses: Oberbürgermeister Vogel, Polizeipräsident Schreiber, AZ-Herausgeber Werner Friedmann, der in der Rechtspolitik besonders engagierte SZ-Redakteur Ernst Müller Meiningen jr. und gelegentlich weitere kompetente Berater.
Es gärt auch in den Kirchen. Deren Akademien entwickeln sich gleichsam zu Laboratorien für Veränderungen der Gesellschaft. "Katholiken treiben den Muff aus dem Sexualunterricht", überschreibe ich einen Bericht über eine Tagung der Katholischen Akademie in Bayern, die auch vor der Präsentation pornografischer Filmausschnitte nicht zurückschreckte. "Kein Thema war tabu", erklärt mir später der vom reformorientierten Kardinal Julius Döpfner berufene Akademiedirektor Franz Henrich. Das hätten die vom II. Vatikanischen Konzil ausgehenden Botschaften verlangt. Eine der Tagungen stellt die kühne Frage: "Revolution statt Reform?"
In der Evangelischen Akademie Tutzing werden ähnlich radikale Gedanken salonfähig. Der neu berufene Pfarrer Paul Rieger nimmt kein Blatt vor den Mund: "Wir fühlen uns nur dann evangelisch, wenn wir die Kritik der Kritiker kritisch überholen, damit die Wahrheit noch freier und die Freiheit noch freier werde." Vierzig Jahre später erklärt mir Rieger, jetzt Kirchenrat, eher selbst- kritisch: "Es war der Versuch eines Aufbruchs, der sich dann aber schnell zu Situationen und Verhaltensweisen entwickelt hat, die nicht mehr zu billigen waren."
In den kirchlichen Jugendgruppen indes geht der Aufbruch weiter. 56 Lehrlinge, Berufsaufbauschüler und junge Arbeiter entwerfen im Evangelischen Studienzentrum Josefstal einen "Eskalationsplan", der nicht nur Demos und Schülerstreiks fordert, sondern auch die Belagerung von Rathäusern und die Gründung von Piratensendern. Der Bund der Katholischen Jugend engagiert sich stark in einem - von Kardinal Döpfer berufenen - Beratungsdienst für Kriegsdienstverweigerer aus Gewissensgründen. "Uns geht es weniger um die direkte Beratung," sagt der Jesuitenpater Claudius Meyer-Lauingen, "als um die Provokation zum Gewissensentscheid". Provokation ist ein Gebot der Stunde.