"Mehr denn je" neu im Kino: Lieben und Loslassen aus Liebe
Hélène ist 33. Ungefähr so alt wie ihr Mann Matthieu auch. Sie brechen zu einer Reise nach Norwegen auf, wo Hélène bei einem älteren Mann in der Einsamkeit ein Zimmer gebucht hat - auf unbestimmte Zeit.
"Mehr denn je": Psychologisch treffende Einstiegsszene berührt
Matthieu muss nach einiger Zeit wieder abreisen, zurück zur Arbeit und in sein Umfeld. In Norwegen würde dann die klassische Spannungs-Beziehung aus junger Frau (Vicky Krieps) und altem, weisen Mann (Björn Floberg) entstehen, hier eben besuchsweise zum Dreieck ergänzt durch den etwas glatten, sympathischen Matthieu (Gaspard Ulliel).
Aber die Geschichte von "Mehr denn je" ist eine andere. Und die ist in der fantastischen, psychologisch treffenden Einstiegsszene eingeführt: eine Party mit vielen Freunden in der Wohnung von Hélène und Matthieu in Bordeaux. Es ist eine Abschiedsfeier, denn Hélène hat eine unheilbare Lungenkrankheit und nicht mehr lange zu leben.
So erlebt man hautnah die Überforderung aller mit, wie man sich verhalten soll: thematisieren, tabuisieren, aufmuntern? Man sieht wie Augen den Blickkontakt mit der Todgeweihten meiden, wie Nähe gesucht wird, aber möglichst ohne eingebunden zu werden, wie eine Freundin ihre Schwangerschaft vertuscht, weil das ja in eine Zukunft weist, die Helene nicht mehr wird erleben können.
Todkranke Hélène: "Hört auf, so mit mir umzugehen"
In diesem labilen Emotionsfeld kann es keine Balance geben, kein Richtig und Falsch. Und Hélène verliert auch die Contenance am Tisch: "Hört auf, so mit mir umzugehen", wirft sie den anderen entgegen, um im nächsten Moment selbst das Problem anzusprechen: "Niemand weiß, wie man sich in so einer Situation verhalten soll...und ich weiß es am allerwenigsten." Was also sollen sie tun?, fragt eine Freundin. "Vielleicht einfach nichts!", antwortet Hélène und verlässt die Freundesgesellschaft. Aber was soll in so einem Zusammenhang "Nichts" sein?
Filmische Diskussion über "natürliches Sterben"
Dass "Mehr denn je" von Emily Atef den Zuschauer nach diesem starken Anfang dann doch nicht richtig packt, liegt an den kommenden Szenen in Norwegen. Der persönliche, lebensphilosophische Internet-Blog für Todkranke des älteren Mannes hat Hélène hierher geführt. Und hier beginnt auch die filmische Diskussion über "natürliches Sterben".
Auf diesen Weg will der alte Mann Hélène führen, während für den jungen Ehemann nur übrigbleibt, klischeehaft zu verzweifeln und alle medizinischen Behandlungsmethoden zu fordern. Und es steht die Frage im Raum, was egoistisch ist: sterben wollen oder den anderen bei sich am Leben halten zu wollen?
In "Mehr denn je" werden die Figuren leider schnell allzu sehr eindimensionale Repräsentanten einer Denkrichtung, was Spannung kostet. Interessant ist hier aber, dass im Angesicht des Todes klassische Beziehungsmuster wie Ehe und Partnerschaft nicht mehr der richtige Rahmen sind. Daran muss sich jeder erst einmal gewöhnen, bis jeder auf seine Weise loslassen kann.
Kino: ABC, Solln sowie Maxim, City (auch OmU) - Regie: Emily Atef (F, D, 122 Minuten)
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