"Guillermo del Toros Pinocchio": In die weite, faschistische Welt hinein
Spätestens, wenn der zwergige, glatzköpfige Duce, den Pinocchio unbedacht als "Dolce" bezeichnet, im Zelt in Catania vorbeikommt, weil er Kasperltheater liebt, wird man stutzig: Wie war das denn genau mit der Geschichte vom Schnitzer Geppetto, dessen Holzfigur zu leben anfängt? Die ist doch in den 80er-Jahren des 19. Jahrhunderts entstanden und nicht im Zweiten Weltkrieg. Aber Carlo Collodis schelmenhafter Fortsetzungsroman-Klassiker ist von Filmemacher Guillermo del Toro völlig neu interpretiert.
Puppenspieler Feuerfresser als brutaler kapitalistischer Ausbeuter
Es bleibt die Erziehungsgeschichte von einem Jungen, der auszieht, um die Welt kennenzulernen. Auch gibt es die sprechende Grille, die hier im Holzloch in Pinocchios Herzen wohnt. Aber schon der schmächtige Junge Lucingolo ist hier ein vom Vater gegen sein Naturell ins Tapfersein hineingebrüllter Jungfaschist.
Der grimmige Puppenspieler Feuerfresser, durch dessen Tournee Pinocchio berühmt wird, hat hier keinen guten Kern, sondern ist ein brutaler kapitalistischer Ausbeuter der Jahrmarkttruppe und Mussolinifan. Und der Riesenhai, in dessen Bauch Pinocchio am Ende seinen "Vater" Geppetto, der ihn aufopfernd gesucht hat, wiederfindet, ist bei del Toro ein Meeresungeheuer, wie man es von barocken italienischen Brunnen kennt.
Die Grundgeschichten sind ganz klar
Wenn dann nach knapp zwei Stunden Pinocchio seine hölzerne Unsterblichkeit aufgegeben hat, um seine Freunde retten zu können, ist er auch noch in der Unterwelt gewesen, wo eine sphinxartige Totenwächterin mit Stundenglas den Jungen – wie Odysseus – über Leben und Sterblichkeit nachdenken lässt.
Man muss den überbordenden geschichtlichen, mythischen, ikonografischen Anspielungsreichtum des Stop-Motion-Trickfilmes gar nicht ganz entschlüsseln können, um gebannt und verzaubert zu werden. Denn die Grundgeschichten sind ganz klar: wie das schwierige Verhältnis von Vätern und Söhnen zwischen Autorität und Emanzipation sowie der Wunsch, so sein zu dürfen, wie man ist.
Über allem thront die Liebe
Der Mexikaner Guillermo del Toro räumte 2018 mit "Shape of Water", dem Liebesfilm zwischen einer stummen Reinigungsfrau und einem Amphibienmenschen, vier Oscars ab. Nach seiner Comicadaption von "Hellboy" (2004) war er bereits mit seinem antimilitaristischen Fantasymärchen "Pans Labyrinth" (2006) berühmt geworden, das im Spanischen Bürgerkrieg spielt.
Und so hat er jetzt "Pinocchio" in die aggressiv verblendete Zeit des italienischen Faschismus gesetzt, in der Pinocchio von Genua aus eine Theatertournee bis Sizilien antritt, wo sich bereits die befreiende Invasion der Alliierten ankündigt. Die mächtige katholische Kirche ist hier eine unheilige Allianz mit der Staatsmacht eingegangen.
Und so ist auch diese Version der Pinocchio-Geschichte eine der Befreiung: aus falschen Erwartungshaltungen, wirtschaftlicher und psychischer Abhängigkeit, aus blindem Gehorsam und Nationalismus. Über allem thront aber die Liebe: versöhnlich zwischen Vater und Sohn, Mensch und Tier, so dass man von diesem Trickfilm für Erwachsene auch tief gerührt wird.
Kino: Leopold (deutsch) und Isabella (OmU)
R: Guillermo del Toro und Mark Gustafson (USA, Mex, F, 116 Min.)
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