Kritik zum Film "Bardo": Im Transitbereich des Lebens
Natürlich ist der Begriff "magischer Realismus" etwas überstrapaziert. Aber manchmal trifft er eben wunderbar zu - wie auf den neuen Film von Alejandro Gonzáles Iñárritu: "Bardo". Iñárritu (59) ist seit Jahren die mexikanische Frischzellenkur für Hollywood und Oscar-Garant: "Babel", "Birdman" oder "The Revenant" stammen von ihm.
Ruhm und Korrumpierbarkeit
Und so hat man ihm wieder eine Menge Dollar für ein Großprojekt in die Hand gegeben. Aber "Bardo" ist sperriger, bizarrer und nachdenklicher als die vorangegangenen Publikumserfolge. Denn Iñárritu denkt hier über das Verhältnis von Ruhm und Korrumpierbarkeit eines Künstlers einerseits sowie anderseits gesellschaftliche Verantwortung nach (hier in Form eines Journalisten, der dennoch spürbar ein Alter Ego des Regisseurs ist). So ist "Bardo" ein autobiografischer Film mit der Hauptfigur Silverio (gespielt von Daniel Giménez Cacho).
"Hast du deine Heimat verraten?"
In einer Schlüsselszene wird der kritische Starjournalist, der längst in den USA lebt, von einer großen Partygesellschaft in seiner Heimat Mexiko Stadt gefeiert. Alte Konkurrenten tauchen neidisch auf, Politiker versuchen den Glanz der Feier auf sich zu lenken, und Freunde und Familie sind stolz, aber zerren auch an den Nerven, weil dieser Silverio auch ein schlechtes Gewissen in sich trägt: "Hast Du deine Heimat verraten?", fragt frech immer wieder ein innerer Teufel.
Im Kern geht es um Fragen der Migration
Es geht also um Grundfragen der Emigration: Silverios Sohn ist bereits in den USA geboren, was daher seine Heimat ist. Er wirft seinem Vater, der sich journalistisch oft um das Schicksal von illegalen Migranten kümmert, vor, als "Migrant erster Klasse" eine selbst-entlastende Doppelmoral zu haben: Indem er über die Entrechteten berichte, fühle er sich gut und lenke dabei von seiner eigenen Privilegiertheit ab. Und daher ist Silverio vielleicht auch besonders nostalgisch und patriotisch mexikanisch, weil er sein schlechtes Gewissen überspielt. "Ich will anwesend sein, in meinem eigenen Leben", sagt Silverio und formuliert damit den Wunsch eines Menschen, der sich von vielem entfremdet fühlt.
Wirbel aus Traum, Erinnerung und Wirklichkeit
Das alles ist eine spannende Diskussion, die hier eben magisch-realistisch erzählt ist, weil Traum, Erinnerungen und Wirklichkeit ineinander spielen - inklusive "erinnerte" Szenen der eigenen Geburt.
So heißt der Film im Untertitel auch "Erfundene Chronik einer Hand voller Wahrheiten". "Bardo" ist mit seinen über zweieinhalb Stunden nie langweilig, aber eben ein großer Brocken - und vor allem eine Hommage an Mexiko als wildes, bizarres, nationalistisches aber auch witziges, menschliches Land.
Und nachdem man sich hat staunend treiben lassen, fallen einem viele filmische Reminiszenzen ein - besonders an Federico Fellinis lebensphilosophische Dekadenzstudie "La dolce Vita", sein Stadtporträt "Roma" oder das Porträt eines Schürzenjägers wie in "Stadt der Frauen".
Gemacht für die große Leinwand
Ob Alejandro Gonzáles Iñárritu "Bardo" auch ins deutsche Kino kommen würde, war bei der Premiere auf der Filmbiennale in Venedig nicht klar. Denn es ist ein Film des Streamingportals Netflix. Aber auf einem Laptop kann man sich "Bardo" kaum vorstellen: Es gibt minutenlange Wüstenpanoramen oder auch Luftaufnahmen, in denen man beim immer genauer Hinschauen kleine Details entdeckt, wie dass zwischen Steinen und kargen Büschen in der Hitze Kleidungsstücke im Sand liegen - Relikte einer andauernden Migration Richtung USA: lebensgefährlich und nicht "erste Klasse". In dieser wiederum fliegt Silverio mit Frau und Sohn wieder "nach Hause", nach L.A. zurück. Aber schon in der Flughafen-Einreisehalle erlebt er grotesken Rassismus eines US-Grenzers, indem der dem Hispanic den Mund verbietet und abspricht, von den USA als seiner Heimat zu sprechen - und so das ohnehin angebrochene Herz Silverios weiter verletzt.
Kino: City, Isabella, Theatiner (alle OmU), R: Alejandro Gonzáles Iñárritu (Mex/USA, 159 Min.)