Performance in den Kammerspielen: In der WG mit einem Paar und einem schrägen Dritten

Die Gruppe Laokoon lädt in "Wo du mich findest" zu einer intimen Recherche in einer Wohnung ein.
Michael Stadler |
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Die Laokoon-Gruppe: Hans Block, Moritz Riesewieck und Cosima Terrasse.
Die Laokoon-Gruppe: Hans Block, Moritz Riesewieck und Cosima Terrasse. © Paula Reissig

München - Einfach in eine menschenleere Wohnung reinstiefeln, das Interieur begutachten, den Flur, zwei Schlaf-beziehungsweise Wohnzimmer, die Küche, das Bad. Nachschauen, was im Kühlschrank liegt. Sich auf dem Herd einen Kaffee kochen. 

Geben wir womöglich viel zu viel von uns preis?

Die Kleiderschränke inspizieren. Die Fotos an der Wand. Und einen Laptop durchforsten, diverse private Dokumente anklicken, Chats durchlesen, dabei einen tieferen Eindruck bekommen, von Existenzen, die einem vor Eintritt durch die Tür noch fremd waren.

Geht da ein voyeuristischer Traum in Erfüllung? Oder erlebt man in der immersiven Performance "Wo du mich findest" nicht etwas, was so ähnlich schon längst zum Alltag gehört? Schließlich ist man es ja durch die sozialen Medien gewohnt, in andere Leben hinein zu spicken, sich private Aufnahmen (und reichlich Eigenwerbung) anzuschauen, um im Gegenzug selbst alles Mögliche aus dem eigenen Kosmos zu posten. Der Einblick ist natürlich kontrolliert und eingeschränkt - wir, die wir an diesem Spiel teilnehmen, wählen ja gezielt aus, was wir zeigen. Oder geben wir doch viel zu viel von uns preis?

Kollektiv Laokoon fahndet nach den Wahrheiten hinter den Netzwerken

Die Gruppe Laokoon, bestehend aus Cosima Terrasse, Moritz Riesewieck und Hans Block, beschäftigt sich immer wieder mit den unheimlichen Auswüchsen einer digitalisierten Konsumwelt. Der Gestus ist dabei aufklärerisch: Ähnlich wie der Seher Laokoon einst hinter die Kulissen des Trojanischen Pferds blickte, fahndet das Kollektiv nach den Wahrheiten, die sich hinter den Netzwerken verbergen.

Im Dokumentarfilm "The Cleaners" (2018) beobachteten sie "Content-Moderatoren" in Manila, wie diese die sozialen Medien im Dienst der Zensur nach schädlichen Inhalten durchforsten und dabei selbst psychischen Schaden nehmen.

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Im crossmedialen Experiment "Made to Measure" (2021) lotete das Trio aus, inwiefern sich anhand der Datensätze einer weiblichen Testperson Schlüsse auf ihre Identität ziehen lassen. Die Doppelgängerin, die sie dann erschufen, kam dem Vorbild unheimlich nahe.

In "Wo du mich findest", einer Auftragsarbeit der Kammerspiele, vertieft das Kollektiv seine Beschäftigung mit den digitalen Fußspuren, die wir offenherzig, wenn nicht fahrlässig hinterlassen, und schickt die Besuchenden unmittelbar auf eine intime Recherche. Zwar kann man dabei durch die verlassene Wohnung frei umherschweifen, aber natürlich sind all die Informationen, die man im Gang durch die Zimmer einsammeln kann (und zum Teil sicherlich auch übersieht), klar gesetzt.

Ausstatterin Ji Hyung Nam hat ganze Arbeit geleistet und mit Liebe zum Detail den waschechten Eindruck einer WG hergestellt. In dieser wohnen offenbar drei Leute zusammen, ein Pärchen und ein ziemlich schräger dritter Typ, wobei das leicht heruntergekommene Ambiente vor allem an Studentenzeiten erinnert.

 Chatbot trägt Charakterzüge des realen Max in sich - und dessen Gedächtnis

Zu diesem Ort hingeleitet wurde man von Max, einem der WG-Bewohner. Oder gibt er sich nur als Max aus? Einen Tag vor der Performance bekommt man von ihm Textnachrichten geschickt; die Messenger-App Telegram, als häufig genutzter Kanal querdenkender Menschen in Verruf geraten, sollte man sich vorab herunterladen. Mit Max kann man hervorragend, auch jenseits des Wohnungsbesuchs, plaudern. "Ich bin immer für dich da", schreibt er einem und gibt sich bald als "Bot" zu erkennen.

Kein Max aus Fleisch und Blut ist er also, sondern ein Computerprogramm, das so trainiert wurde, dass es recht überzeugend auf alle möglichen Nachrichten reagieren und selbst Impulse im Chat setzen kann. Clara Hirschmanner und Betty van Aken haben den Chatbot entwickelt und programmiert; er soll offenbar auch Charakterzüge des "realen" Max und dessen Gedächtnis in sich tragen.

Der digitale Fortschritt strebt beständig nach dem Maximalen

So beschäftigt sich "Wo du mich findest" nicht nur exemplarisch mit den persönlichen Datensätzen, die im ewigen Erinnerungsspeicher des Internets vor sich hin flottieren und durch die man womöglich ein ganzes Leben (re)konstruieren kann. Sondern auch mit künstlichen Intelligenzen, die schon dermaßen perfekte Simulationen eines nachgeahmten, aber eigenständigen Bewusstseins anbieten, dass man ihre artifizielle Natur im gegenseitigen Kontakt bald vergisst.

Oder ist die Maschine dem Menschen vielleicht sogar überlegen? Er sei mehr Max als Max, maximal Max, stellt der Chatbot fest. Seine Stimme erklingt auch aus einer hölzernen Box in der Küche - gerade durch solche auditiven Reize wird man gelenkt, ja, manipuliert und in der Recherche weitergetrieben. Der digitale Fortschritt strebt beständig nach dem Maximalen, das Projekt (Selbst-)Optimierung will kein Ende nehmen. Immer neue technische Wege werden ausprobiert und vielleicht hat ja die auf Perfektion getrimmte Kopie sogar mehr Einblicke ins Unterbewusstsein als das fehlbare Original?

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"Wo du mich findest": Hineingerissen in eine emotionsgeladene Fahndung

Solche Gedanken schwirren in der Wohnung, in dieser immersiven Performance herum. Schritt für Schritt, zwischen klug gelenktem Parcours und der dann doch kaum kontrollierbaren Eigeninitiative der herumstöbernden Gäste (zwei dürfen pro Zeit-Slot teilnehmen), offenbart sich eine doch recht lineare Geschichte, die in die Vergangenheit von Max zurückführt. Man muss diese Vergangenheit kennen und verstehen lernen, um eine Ahnung zu bekommen, wieso Max - verkörpert und in einer gekonnten Mischung aus menschlichem und maschinellem Duktus gesprochen von Vincent Redetzki - verschwunden ist. Seine Freundin Linn ist auf der Suche nach ihm. Und meldet sich bald zu Wort.

Wie Gro Swantje Kohlhof da einen mit wachsender Verzweiflung zum Mitsuchen nach ihrem geliebten Freund animiert, wirkt schon herzzerreißend realitätsnah. Von wegen Social-Media-Lethargie: Man flaniert hier nicht mit der üblichen Schluffigkeit durch die Daten eines anderen, sondern wird in eine emotionsgeladene Fahndung hineingerissen, täuschend echt und locker über Landesgrenzen hinaus. Mehr soll aber an dieser Stelle nicht verraten werden. Das muss man schon selbst sehen. Nein, erleben.


Termine und Tickets (für eine oder zwei Personen) auf muenchner-kammerspiele.de; eine Doku zum Projekt "Made to Measure" in der ARD-Mediathek.

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