"Serge" von Yasmina Reza: Über das Leben und Sterben
München - "Die Position eines Mannes, der auf der Bettkante sitzt, hat etwas Ergreifendes. Der unbeobachtete Körper gibt sich der Niedergeschlagenheit hin." "Serge", tragischer Titelheld ihres gleichnamigen neuen Buches, beschreibt Yasmina Reza ein Gemälde Edward Hoppers vor Augen.
Familienausflug nach Auschwitz
Serge Popper ist abgebrannt, seine Lebensgefährtin hat ihn rausgeschmissen. Er ist vorübergehend bei Jean, dem jüngeren Bruder, untergekommen. Anschließend brechen die beiden gemeinsam mit der kleinen Schwester zu einem etwas anderen Familienausflug auf: nach Auschwitz - wo ein Großteil der Verwandtschaft ermordet wurde. "Man kann nicht behaupten, wir hätten ihnen viele Fragen gestellt", stellt Serge nach dem Tod der Mutter fest.
Seine Tochter Joséphine ist es, die auf dem Höllen-Trip in die Vergangenheit besteht. Ihr großspuriger, pedantischer, schnell aufbrausender Vater ist alles andere als ein Sympathieträger. Er verdient sein Geld mit nicht ganz koscheren Geschäften und gibt es für einen höchst ungesunden Lebensstil aus.
Roman "Serge" von Yasmina Reza: Über das Erbe der Shoah
Reza dröselt die jüdische Familiengeschichte buchstäblich vor dem Hintergrund von Auschwitz und Birkenau auf. Was sie dabei vor allem auch beschreibt, ist das epigenetische Chaos, das es bedeutet, Nachkomme von Shoah-Opfern zu sein. Von Menschen, die die Grausamkeit der Nazis und die Gnadenlosigkeit des Zufalls überlebt haben.
Und die französische Star-Schriftstellerin mit jüdisch-iranischen Vorfahren reflektiert die Schwierigkeit angemessenen Gedenkens: "An diesen Orten mit den komischen Namen will mir keine Gefühlsreaktion gelingen", gesteht Jean. "Ich schwanke zwischen Kälte und dem Bemühen, etwas zu empfinden, womit man nur sein Wohlverhalten unter Beweis stellen will." Und weiter: "Vergesst nicht. Aber warum? Ein Wissen, das nicht zutiefst mit einem Selbst verbunden ist, bleibt folgenlos. Dieser Fetischismus der Erinnerung ist bloßer Schein."
Doch angesichts von 11.000 allein aus Frankreich deportierten und ermordeten Kindern kann nicht einmal Serge das Überlebensprinzip des Verdrängens aufrechterhalten: "All diese Kinder, was für eine Vergeudung… da kommt der Niedergang Europas her. Sie haben die lebende Seele Europas getötet."
Jüdische Familiengeschichte mit philosophischen Einflüssen
Die Geschichte wird aber aus Jeans Perspektive erzählt: Vernunft-Mensch und Gefühls-Analphabet, der sich mit zunehmendem Alter seiner Verlorenheit bewusst wird. Und dann ist da noch Schwester Nana, das Nesthäkchen. Sie hat einen spanischen Maoisten geheiratet und engagiert sich für sozial Benachteiligte.
Weil ihre Vorfahren als "bürgerliche Wiener Juden" beschrieben werden, muss man bei den "drei Popper-Kindern" an den Philosophen Karl Popper denken, dessen Drei-Welten-Lehre sich in den unterschiedlichen Charakteren zu materialisieren scheint.
Scharfe Dialoge in einem mitreißenden Buch
Rezas Erzählton ist drastisch, bitter, sarkastisch, aber nie taktlos. Wie sie das Geschwister-Trio schildert, das sich bis aufs Messer streitet, aber doch unabdingbar zusammengehört, ist treffsicher und anschaulich, furioses Kopf-Kino. "Zum letzten Mal waren wir in Auschwitz zusammen, und jetzt zum PET-CT im Krankenhaus. Wir könnten uns wirklich mal was Lustiges vornehmen", stellt Nana fest, als sie auf Serges Diagnose warten. Yasmina Reza gelingt ein großes, tieftrauriges Buch, erträglich gemacht nur durch grotesk-pointierte Komik. Dass "Serge" in seiner Dialog-Schärfe und der Genauigkeit der Beobachtung fast wie Theater funktioniert, kann bei Frankreichs Drama-Queen, deren Bühnenstücke filmreif sind, nicht verwundern.
Serge hieß auch der humorlose Dermatologe in Rezas erstem Theaterstück "Kunst", der für 200 000 Franc ein weißes Bild mit weißen Streifen kaufte und nicht verstehen konnte, was sein Freund daran so witzig fand. Mit ihm hat dieser Serge wenig gemein: Ein reiner Materialist, vor allem an Geld und weltlichen Freuden interessiert, die es ermöglicht. Man mag ihn wegen seines auch gegen sich selbst ätzenden Humors trotzdem.
Roman über das Leben und Sterben
Auch die große Drei kehrt in Rezas Werk wieder, ob in "Kunst" oder "Drei Mal Leben". Und wie im "Gott des Gemetzels" schickt sie ihre Protagonisten in eine Schlacht, die man Leben nennt, und sammelt am Ende die Gebeine ein.
Es geht in diesem an sich schlanken Roman um alles: Um das monströse Verbrechen des Holocaust, um das unfassbar Böse. Um die Schmerzen der Überlebenden. Und um Alter, Krankheit und die schlichte Tatsache, dass der Körper endlich ist. "Was heißt das: gelebt?, und was heißt das: gestorben?" fragt Jean mit Sholem Aleichem.
Ein Rabe - bewusste Edgar-Allan-Poe-Hommage - der auf der Straße an einer toten Taube pickt, erscheint dem Ich-Erzähler wie ein Todes-Bote. Und die schwarzen Vögel werden mehr. Jean beobachtet sie erschrocken und fasziniert und erkennt: "Die Vögel sind weder ruhelos noch verrückt. Sie suchen den besten Ort und finden ihn nicht. Alle Welt glaubt an einen besseren Ort."
Da meint man die Stimme von Yasmina Reza zu hören.
Yasmin Reza: "Serge" (Hanser, 206 Seiten, 22 Euro)
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