"Über Menschen" im Volkstheater: Links und rechts auf Augenhöhe
In Juli Zehs Roman fällt der Satz ganz lapidar, wird über eine Mauer gesprochen, die den Garten von Dora, Neuankömmling aus Berlin, vom Garten ihres neuen brandenburgischen Nachbarn Gottfried, kurz Gote, trennt. "Angenehm", sagt Gote. "Ich bin hier der Dorfnazi". In Christian Stückls Inszenierung des Stoffes hat Jakob Immervoll, der Gote spielt, sich von Dora, gespielt von Maral Keshavarz, bereits abgewendet. Der Streit der beiden, ausgelöst durch einen Grenzübertritt von Doras Hund, ist eigentlich zu Ende. Gote stapft weg, hält aber noch mal inne, dreht sich um. "Übrigens… ich bin hier der Dorfnazi!"
Und schon hat dieser Satz einen anderen, wesentlich bestimmteren Klang, wirkt wie eine Bedrohung, mit der Gote seine Nachbarin einschüchtern will. Christian Stückl hat Juli Zehs Roman "Über Menschen" auf die Bühne seines Volkstheater gebracht, und weil das reine Erzähltheater nicht so sein Ding ist, agieren bei ihm die Figuren nicht in einer Mischung aus Nacherzählung und Spielszenen die besten Textstellen aus, wie man das von anderen Buchadaptionen, zuletzt "Effingers" an den Kammerspielen, kennt. Stattdessen hat Stückl versucht, über 400 Seiten Roman auf zwei Stunden Theater einzudampfen und die Prosa vollständig ins Dialogische und Szenische zu übersetzen.
"Über Menschen": Im Zentrum steht Dora
Als Bühnen-Unternehmung ist das von Grund auf gewagter und erfrischender als eine bloße Roman-Paraphrase. Und es ist schon beeindruckend, wie Stückl es schafft, trotz einiger Änderungen den Kern der Handlung herauszuarbeiten. So steht natürlich auch bei ihm Dora im Zentrum: eine Werbetexterin, Mitte 30 (bei Stückl etwas jünger), die ihrer Heimat Berlin den Rücken zukehrt, nachdem sie sich von ihrem Freund Robert, einem verbissenen Klima-Aktivisten und Verfechter der Corona-Maßnahmen, getrennt hat. In dem brandenburgischen Kaff Bracken kauft Dora sich ein altes Haus, geht per Home-Office weiterhin ihrem Job nach und versucht, den verwilderten Garten auf Vordermann zu bringen. Nebenbei macht sie die Bekanntschaft mit den Dorfbewohnern, von denen sich einige als AfD-Wähler entpuppen. Und einer eben sogar als Neonazi.

Während sich bei Zeh die Dialoge zwischen Dora und Gote vor allem über die Gartenmauer abspielen, hat Stückl eine freiere Spielwiese gewählt, auf der die Körper in direkten Kontakt treten können. Kostüm- und Bühnenbildner Stefan Hageneier hat eine asphaltgraue Ebene, irgendwo zwischen Landstraße, Dorfplatz und Hausdach, eingerichtet, umgeben von einem abgerundeten Horizont, auf dem sich Wälder unter einem notorisch bewölkten Sorgen-Himmel abzeichnen. Zwischen Spielfläche und Prospekt klafft ein Abgrund, der so tief ist, dass Volkstheater-Pressesprecher Frederik Mayet vor der Aufführung die Zuschauer informiert, dass sie im Brandfalle ja nicht Richtung Bühne flüchten sollten. Eine gute Warnung. Wer will schon im Theater am eigenen Leib einen tragischen Fall erleben?
Juli Zeh schenkt den Bewohnern Berufsalltag und eine Back-Story
Mit schmalen Leitern können die Figur aus der Tiefe auf die Ebene klettern, wobei Dora, einmal dort angekommen, den Rest der Zeit bleibt. Nicht Karlsson, sondern Dora auf dem Dach trifft hier auf einige eigenartige Menschen; es sind Begegnungen, die Lichtmeister Björn Gerum bevorzugt in giftiges, surreales Gelb taucht. Während die Großstädterin in Zehs Roman immer wieder auszieht, um die Dörfler (und durchaus auch das Fürchten) zu lernen, kommen die Einheimischen bei Stückl zu ihr. Zum Beispiel Sadie, von Pola Jane O'Mara überzeugend als White-Trash-Tussi gespielt, die gerne Witze, auch rassistische, reißt, später aber von ihrem anstrengenden Dasein als alleinerziehende Mutter erzählt und an Tiefe gewinnt. Klar, kann man dann schon auch ein bisschen verstehen, dass Sadie auf "die da oben" sauer ist und deshalb die Partei wählt, die rechtspopulistisch "Volkes Stimme" abgrast.
Juli Zeh schenkt allen Bewohnern Brackens einen Berufsalltag und eine Back-Story, lässt sie normaler erscheinen als es die Klischees vermuten lassen.
Das schwule Paar Tom und Steffen etwa, von Stefan Hageneier in ähnlich grässliche, schlauchige Pullis gesteckt, macht sich über die Stereotypen, die im Kopf der Berlinerin vermutlich lauern, immer wieder lustig. Ja, natürlich lässt Blumenzüchter und Gesteck-Verkäufer Tom Mittelmeerflüchtlinge aus Aleppo für sich arbeiten… Nein, Spaß, es sind Erasmus-Studenten aus Lissabon, die sich bei ihm ein bisschen Geld dazuverdienen.
Steffen Link und Julian Gutmann geben ein schön schräges Paar ab, so, wie hier alle etwas seltsame Typen konturieren dürfen, als ob Dora in einem abgründigen Märchen gelandet ist. Anne Stein ist ganz wunderbar als feenhaft auftretende Tochter von Gote: ein quengelndes, aber auch herziges Kind, das sich in Dora und ihre Hündin vernarrt. Ja, die Hündin aus dem Buch gibt es auch, wuschelig-süß, die lässt Stückl sich nicht nehmen, während er Doras Vater, im Roman durchaus eine tragende Figur aus dem bourgeoisen Stadtkosmos, weggekürzt hat.
"Über Menschen" im Volkstheater: Stückl baut Roberts Rolle aus
Die Rolle, die Doras Freund Robert spielt, hat Stückl hingegen ausgebaut: Max Poerting taucht gleich zu Anfang auf dem Dach auf und streitet mit Dora auch später in etwas redundanten Szenen über Umweltschutz und den Kampf gegen Corona. So ganz haut das dann mit der ständigen Dialogisierung der Vorlage doch nicht hin, weil Juli Zeh nun mal die heißen tagesaktuellen Eisen, die sie anpackt - Klimawandel; Fridays for Future; Corona; Rechtsradikalismus; linksliberal-grün gesinnte Städterin versus handfeste, AfD wählende Landeier - eben nicht nur in eine flüssige Handlung verpackt, sondern immer wieder auch in Überlegungen abschweift, die mehr Feuilleton als theaterkompatible Prosa sind.
Die undankbarste Aufgabe hat dann auch Ensemble-Neuzugang Maral Keshavarz: Als Dora ist sie die Fremde inmitten des eingeschworenen Haufens und darf sich allerlei essayistische Juli-Zeh-Gedanken machen. Kein Wunder, dass sie an manchen Textstellen, zumindest bei der Premiere, stolpert. Und dennoch: Mit klarer Ausstrahlung und aufrechter Haltung ist Keshavarz ein guter Ankerpunkt der Inszenierung. Gerade gegen Gote setzt sich ihre Dora entschlossen und beachtlich furchtlos zur Wehr.

Den versieht Jakob Immervoll mit wohl dosierter Körperschwere und der dumpfen Unbeirrbarkeit eines Dickschädels. Ob Gote nun das Horst-Wessel-Lied singt (von Komponist Tom Wörndl mit folkiger Musik konterkarierend unterlegt), von dem tollen Ausflug mit seinem Vater zu den rechtsradikalen Ausschreitungen in Rostock-Lichtenhagen im Sommer 1992 erzählt oder auf die Nackensteaks vom Dorf-Fleischer fürs perfekte Grillen pocht - er steht zu seinen Überzeugungen. Und baut mit Dora eine fast schon herzliche Beziehung auf: das gemeinsame Rauchen ein verbindendes Ritual, das Streiten ein freier Gedankenaustausch, bei dem man den anderen unweigerlich kennen und verstehen lernt.
Zudem spürt man als Zuschauer untergründig Sympathie mit dem Schauspieler Immervoll, der hier mit Verve und Wille zur realitätsnahen Milieu-Studie den impulsiv aggressiven, aber auch kernig-lässigen Rechtsradikalen spielt. Dass der Neonazi als Mensch einem näher kommt, das war in Zehs Roman schon so und dem entkommt auch Christian Stückl nicht. Aber Zeh will ja gerade gegen das Schwarz-Weiß-Denken anschreiben, gegen jede Arroganz. "In Bracken ist man unter Leuten. Da kann man sich nicht mehr so leicht über die Menschen erheben", sagt Tom zu Dora einmal. Menschen auf Augenhöhe bringen - das ist natürlich auch ein Anliegen des Theaters, gerade des Volkstheaters, wie Christian Stückl es auch in dieser leicht disparaten, aber auch gewitzten und rührenden Romanadaption pflegt.
Volkstheater, Bühne 1, Karten unter muenchner-volkstheater.de
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