Bayerisches Staatsballett tanzt "Giselle": Schwingen und fließen
Da steht der Archetyp aller romantischen Ballette erneut auf dem Spielplan - und dann das: Durch Corona wird die Wiederaufnahme von Peter Wrights "Giselle"-Choreografie beim Bayerischen Staatsballett schlichtweg ausgebremst.
Corona bremst Solisten-Paare knallhart aus
Erst eine, dann weitere Infektionen im Ensemble verhindern den üblichen Probenverlauf und setzten die bereits startklaren Hauptrollen-Paare Maria Baranova und Yonah Acosta sowie Jinhao Zhang mit Jeanette Kakareka (erstmals in der Titelpartie) schachmatt. Vorbei die Chance, sich im Mittelpunkt einer - trotz ästhetisch überholtem Dekor - bis heute schlüssig konzipierten und aufgrund glaubhaft konturscharf gezeichneter Charaktere überzeugenden Produktion zu beweisen.
Seit 1974 besitzt diese Klassikerfassung - angefangen beim einstigen Traumpaar Konstanze Vernon und Heinz Bosl - in der Münchner Kompanie die längste Aufführungstradition. Nun mussten gleich drei Vorstellungen ausfallen, die ursprünglich mit hoffnungsvollen Besetzungsnachrückern versehen waren und große Erwartungen geschürt hatten.
Zwei ausgezeichnete Solistinnen bekommen Nachwuchs
Solche künstlerischen Konstellationen lassen sich leider nicht so schnell nachholen. Zumal in der laufenden Spielzeit mit Ksenia Ryzhkova und Laurretta Summerscales zwei brillante Erste Solistinnen des eigenen Nachwuchses wegen pausieren und nach ihrer Rückkehr diverse Titelpartien - gerade als Giselle - wohl aufs Neue beanspruchen werden.
Die aktuell drastisch geschrumpfte Wiederaufnahme-Serie hätte eigentlich von Madison Young mit Osiel Gouneo als Albrecht eröffnet werden sollen. Stattdessen holte eine rundum blendend disponierte Prisca Zeisel am vergangenen Samstag die Figur der gesundheitlich fragilen und in Liebesdingen leichtgläubigen Unschuld vom Lande zurück auf die Bühne.
Prisca Zeisel überzeugt mit atemberaubendem Debüt
Ihr grandioses Debüt als Giselle an diesem Abend - ganz gemäß des ursprünglichen Spielplans - darf man einfach sensationell nennen. Schon als sie das erste Mal in Erscheinung tritt, gibt es kurzen Auftrittsapplaus. So stark wirkt ihre Präsenz. Für fest engagierte Kompaniemitglieder sind derartige Begrüßungen eher selten.
Zeisel, die seit 2016 zum Staatsballett gehört, ist es gelungen, sich zügig die unterschiedlichsten Rollen aufs Einprägsamste anzueignen. Als Ballettchef Igor Zelenksy zu seinem Amtsantritt vor fast sechs Jahren mit "Giselle" durchstartete sowie anfängliche Diskussionen um seine Führung und Personalpolitik schlagartig zum Verstummen brachte, blieb Zeisel bereits mit einer unnachahmlich eiskalten Interpretation der Myrtha im Gedächtnis.
Myrtha, die herzlose Königin der männermordenden Wilis, ist eine kreuzschwere Partie. Das vermochte nun Elvina Ibraimova, deren Debüt als Königin der männermordenden Wilis kurzfristig um eine Woche vorgezogen worden war, auf Anhieb noch nicht gleichermaßen souverän zu meistern. Obwohl sie Hilarion (Jonah Cook) mit aller gebotenen gestischen Gnadenlosigkeit sich zu Tode tanzen lässt.
Emilio Pavan schwächelte im zweiten Akt
Ein Schicksal, dem Albrecht dank Giselles hartnäckigem Flehen und deren wachsamem tänzerischen Beistand entgeht. Schade, dass Emilio Pavan bei seinem Albrecht-Debüt nach anfangs viel spielerischem Charme die mentale Unordnung seiner Figur - von Trauer bis zur Erlösung - im zweiten Akt nicht auf die Spitze einer erkennbaren physischen Erschöpfung trieb.
Zeisel dagegen - ihrerseits noch suchend in der Wahnsinnsszene mit schizophren-psychotischen Momenten - gibt technisch federleicht und darstellerisch alles, um den Geliebten mit letzter verbliebener, langsam erlöschender Menschlichkeit zu retten.
Für diese Performance braucht es keine Worte
Das inhaltliche Gewicht ihrer Geister-Giselle scheint sie in einem Pas de deux mit Albrecht von exquisiter Langsamkeit ganz und gar auf das Verzeihen zu legen. Von Emilio Pavan einfühlsam begleitet erstarrt keine von Zeisels wunderschönen Posen, sondern sie schwingen und fließen immer weiter. Hinreißend.
Weitere Vorstellungen am 28. Januar um 19.30 Uhr (Madison Young und Osiel Gouneo) und am 1. April als Teil der Ballettfestwoche. Karten online und unter Telefon 2185 1920
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