Passionsspiele Oberammergau: Jesus auch für Ungläubige
Oberammergau - Wenn eine bekannte Geschichte erzählt wird, kommt es weniger auf das "Was", sondern vor allem auf das "Wie" an. Da unterscheidet sich eine Passion nicht grundsätzlich von einer Inszenierung von "Faust" oder eines ähnlich vieldeutigen Klassikers, zumal das von vier Jesus-Biografen überlieferte Geschehen samt einer 2.000-jährigen Tradition irgendwie in eine sinnvolle Ordnung gebracht werden muss.
Es geht um soziale Gegensätze und grundlegende Regeln menschlichen Zusammenlebens
Christian Stückls vierte Version des Oberammergauer Passionsspiels seit 1990 nimmt da eine deutliche Position ein: Erzählt wird die Geschichte eines scheiternden Reformers. Sein Jesus möchte die Religion den Priestern entreißen und wieder den Menschen näherbringen. Im Kern - und das ist bei einem Passionsspiel so durchaus überraschend wie einer eher glaubensfernen Zeit angemessen - dreht sich der Streit nicht um Religion, sondern um soziale Gegensätze und grundlegende Regeln menschlichen Zusammenlebens.
Frederik Mayet, wie schon vor zwölf Jahren durch Los als Premierenbesetzung gewählt, spielt Jesus als entschiedenen Philosophen der Menschenliebe. Wer damals Rochus Rückel gesehen hat, wird auch ihm zutrauen, das ähnlich konsequent darzustellen. Dass sich Jesus auch als Sohn Gottes versteht und nach christlicher Lehre um der Vergebung aller Sünden willen stirbt, wird pflichtschuldig in ein, zwei Nebensätzen erwähnt. Wichtig für Stückls Inszenierung ist es kaum.
Auch unter den Jüngern Jesu gibt es Radikale
Textfassung wie Inszenierung vermeiden es sorgfältig, den Einzelnen für das Kollektiv haftbar zu machen. Im Hohen Rat gibt es eine größere Gruppe von Jesus-Anhängern um Joseph von Arimathäa (Walter Rutz). Das Volk ist gespalten. Auch unter den Jüngern Jesu gibt es Radikale, die seine Ethik als Aufforderung zum politischen Freiheitskampf verstehen.
Immer wieder mahnt Jesus: "Wahre den Frieden", fordert er beim Abendmahl Judas (Cengiz Görür) auf, als dieser mit den Worten "Gott will, dass wir uns wehren" zum Widerstand gegen Rom auffordert. Der gewaltbereite Jünger möchte ein Gespräch zwischen Jesus und Kaiphas vermitteln und wird so gegen seine Absicht zum Verräter. Die Silberlinge müssen ihm geradezu aufgedrängt werden, und sein Scheitern im Selbstmord ist fast tragisch zu nennen.
Kaiphas: Ein Politiker des falschen Ausgleichs
Da knirscht die Dramaturgie ein wenig. Kaiphas (Maximilian Stöger) scheitert darin, es allen recht zu machen. Er ist ein Politiker des falschen Ausgleichs. Die Schuld am Tod Jesu wird ganz auf den Zyniker Pilatus (Anton Preisinger) abgewälzt, den innerjüdische Streitereien anwidern und der - nachdem er seine Hände in Unschuld gewaschen hat - den Hohepriestern die Schale hinschleudert, dass es nur so spritzt: Er sieht sich letztendlich gezwungen, aus politischen Gründen ein abschreckendes Exempel statuieren, das ihm nur Ärger mit seiner Frau einbringt.
Erneut betont Stückls Aufführung das Jüdische an Jesus
Dass die Römer so schlimm sind, bleibt ein wenig theoretisch. Wenn Magdalena in Bethanien die politischen Eiferer darauf hinweist, dass das Wetter schön sei und die Weinstöcke in Frieden blühen würden, nähert sich die Aufführung auf wenige Zentimeter der Szene "Was haben die Römer je für uns getan" aus "Das Leben des Brian".
Wie schon vor zwölf Jahren betont die Aufführung das Jüdische an Jesus. Nach der Reinigung des Tempels betet er mit dem Volk das Shma Israel und erhebt eine Tora-Rolle. Das Abendmahl ist deutlich ein Pessah-Mahl. In einem höheren Sinn sind aber alle Figuren des Spiels vor allem Menschen. Stefan Hageneiers neue Kostüme betonen eher die Zeitlosigkeit, und dazu passt, dass die Ornamente auf einigen Kostümen entfernt und zugleich deutlich an Palästinensertücher erinnern.
Die Lebenden Bilder des Jahres 2010 werden sehr vermisst
Die stärkste Veränderung der Inszenierung betrifft den ältesten Traditionsbestand: den Chor, der die "Lebenden Bilder" mit den Bezügen des Passionsgeschehens zum Alten Testament vorstellt. Er trug zuletzt stilisierte Kostüme, die auch in eine "Aida"-Aufführung gepasst hätten. Nun sind es fast heutige Oberammergauer, die am Anfang das Gelübde ablegen und die Handlung wie ein griechischer Tragödienchor kommentieren.
Stückl hat die Auf- und Abtritte beschleunigt, an Schlüsselstellen treten das historische Volk und die Oberammergauer gemeinsam auf. Leider hat der Ausstatter die Lebenden Bilder des Jahres 2010, die sich an italienischer Frührenaissance orientierten, durch viel weniger deutliche und meist auch nicht optimal ausgeleuchtete Neufassungen ersetzt. Und weil diese Allegorien eine Kenntnis des Alten Testaments voraussetzen, die nicht jedem gegeben ist, wirken diese Szenen etwas frostig.
Erste Oberammergauer muslimischen Glaubens in Hauptrollen
Dazu kam am Premierenabend der etwas dünne, nicht sehr textverständliche Gesang des Chors und der Solisten. Das aber bleibt, neben manch unnötiger Wiederholung im Text und den recht blassen Frauenfiguren, die einzige Schwachstelle von Stückls Inszenierung, in der dankenswerterweise auch hörbar jüngere Leute mitwirken, deren Ahnen nicht schon seit 350 Jahren in Oberammergau leben. Cengiz Görür und Abdullah Karaca (Nikodemus) sind die ersten Oberammergauer muslimischen Glaubens in Hauptrollen.
Dass die nächtliche Ölberg-Szene noch bei hellem Tageslicht spielt, wird sich nie vermeiden lassen. Diese selbst bei Johann Sebastian Bach langen Minuten überspielt Mayet durch eine psychologisch starke Darstellung der allzu menschlichen Anfechtung des Charismatikers Jesus, die verblüffende Parallelen in der von Görür ähnlich stark gespielten Verzweiflung des Judas hat. Und es ist sehr geschickt, wie Stückl am Ölberg den Engel einführt, der schon beim Abendmahl lange am Rand der Bühne sitzt, als sei er einer der Jünger. Wenn der gleiche Engel am Ende der Aufführung die drei Marien beinahe grob herunterputzt, weil sie nach dem Leichnam des längst Auferstandenen suchen, ist das auch für Agnostiker fast schon zu viel der Nüchternheit.
Das gequält Spirituelle jeder religiösen Kunst hat Stückl sehr geschickt vermieden
Dass am Ende nur eine Flamme brennt und die Auferstehung allein den leeren Kreuzen und der Musik überlassen bleibt, vermeidet jeden christlichen Kitsch, der in Oberammergaus Schnitzereischaufenstern allgegenwärtig bleibt.
Und damit kommen wir zur größten Stärke dieser Aufführung: Antisemitismus und Antijudaismus gibt es nicht mal mehr im Mikrogrammbereich. Das gequält Spirituelle jeder religiösen Kunst hat Stückl sehr geschickt vermieden. Trotzdem werden Gläubige nicht verschreckt. Diese Passion lädt vor allem Agnostiker und andere Kirchenferne ein, Jesus als Propheten des Friedens und der Ehrlichkeit zu verstehen. Und das ist - bei einzelnen Schwächen im Detail - fast die Quadratur des Kreises, die im Theater fast noch schwieriger ist wie anderswo.
Bis 2. Oktober, Di, Do, Fr, Sa und So. Karten: www.passionsspiele-oberammergau.de und Telefon 08822/8359330
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