Nach Roman von Jovana Reisinger: "Spitzenreiterinnen" im Münchner Marstall

Yana Eva Thönnes bringt den Roman "Spitzenreiterinnen" von Jovana Reisinger sehr überzeugend auf die Bühne des Münchner Marstalls.
Robert Braunmüller
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Eine Inszenierung wie ein Computerspiel: Brigitte Hobmeier, Hanna Scheibe und Vassilissa Reznikoff bei der Wahl eines Charakters in "Spitzenreiterinnen" nach dem Roman von Jovana Reisinger.
Eine Inszenierung wie ein Computerspiel: Brigitte Hobmeier, Hanna Scheibe und Vassilissa Reznikoff bei der Wahl eines Charakters in "Spitzenreiterinnen" nach dem Roman von Jovana Reisinger. © Birgit Hupfeld

Die Vertheaterung von Romanen ist eine heikle Sache. Leser vermissen Lieblingsstellen und vergleichen Inszenierungen mit ihrem Kopfkino – meistens zum Nachteil des Theaters.

Was Prosa in der Schwebe lässt, wird auf der Bühne oft unangenehm konkret bis eindimensional. Und allzu oft lässt die Regie die Handlung erzählen, statt sie wirklich auf der Bühne zu spielen.

Die Inszenierung von "Spitzenreiterinnen" ist ein Glücksfall

"Spitzenreiterinnen" im Marstall ist ein Glücksfall: Den Leserinnen (und Lesern) des Romans von Jovana Reisinger wird nichts fehlen, auch die anderen denkbaren Mängel treten nicht in Erscheinung.

Im Gegenteil: Der neu hinzuerfundene Rahmen bietet den Mehrwert, den bei der Lektüre etwas rätselhaften Titel des Romans plausibel zu erklären – und zwar nicht nur in Worten, sondern als szenische Aktion.

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Jovana Reisingers Roman handelt von gegenwärtigen Mittelstands-Frauen, die ihre Biografien an Lebensmustern aus Frauenzeitschriften messen und zu optimieren versuchen. Diesen leicht künstlichen Charakter des Romans übersetzt die kongeniale Inszenierung von Yana Eva Thönnes in ein Videospiel.

Die Spielerinnen steigen von Level zu Level auf und werden im besten Fall zu den titelgebenden Spitzenreiterinnen. Das ermöglicht wenigstens für drei der vier Spielerinnen ein vorläufiges Happy End, das nicht allzu schal wirkt.

"Spitzenreiterinnen" im Marstall: Bühnenbild und Musik sorgen für Ordnung in der Dramaturgie des Romans

Auch wenn die Frauen manchmal unterbrechend aus ihrem Spiel fallen, wird der Rahmen eines Videospiels nicht mit pedantischer Konsequenz durchgezogen.

Bilder auf den Screens (Bühne: Dominic Huber) und Wohlfühlmusik (Nile Koetting) sorgen für eine Leichtigkeit, die einige der Geschichten ironisch bricht, Härten zugleich aber kontrastierend verstärkt. Und das alles sorgt für Ordnung in der episodischen Dramaturgie des Romans.

"Spitzenreiterinnen" im Münchner Marstall.
"Spitzenreiterinnen" im Münchner Marstall. © Birgit Hupfeld

Vassilissa Reznikoff spielt eine unendlich naive Person, die den Sinn ihres Lebens in einer Traumhochzeit erblickt und versucht, diesem Ziel durch Schönheitsbäder und dem Besuche von Kosmetikstudios nahezukommen.

Auf dem Attraktivitäts- und Partnerschaftsmarkt konkurriert sie mit einer gleichaltrigen Freundin, die am Ende den Jackpot knackt: Onkel und Tante fallen zwar einem Raubmord zum Opfer, sie aber erbt ein Ufergrundstück am Starnberger See inklusive Aktiendepot.

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Die Schauspielerin lässt ihre Figur mit Goldrand plappern, verzerrt sie aber nicht zur Karikatur. Das gilt auch für Hanna Scheibe, die eine Witwe im besten Alter spielt.

Ihr läuft das Hündchen des ermordeten Paars zu, das sie verwöhnt wie ihren verstorbenen Mann, der sich anfangs noch kommentierend einmischt und ihre Entscheidung zu pinker Freizeitkleidung aus dem Jenseits kritisch kommentiert.

Roman "Spitzenreiterinnen" auf der Bühne: Kritik am Patriarchat ohne Verbissenheit oder schrille Töne

Brigitte Hobmeiers Figur betrinkt sich, von ihrem Freund nach einer Fehlgeburt verlassen, in einem französischen Lokal. Bürgerliche Münchner dürften sofort den Austernkeller erkennen: Im Programmheft ist er auch namentlich genannt.

Dort wirft Hobmeier verzweifelt und stark angeheitert mit Schneckenschalen um sich, was den niederbayerischen Mann einer von Carolin Conrad gespielten Figur aufbringt. Der stellt sich im Lauf der Handlung als gefährlich intriganter Gewalttäter heraus: Brigitte Hobmeier spricht auch noch ihn –  elektronisch verzerrt hinter einer Maske.

Hanna Scheibe in "Spitzenreiterinnen"
Hanna Scheibe in "Spitzenreiterinnen" © Birgit Hupfeld

Kritik am Patriarchat formulieren der Roman und die Inszenierung nachdrücklich, aber ohne Verbissenheit oder schrille Töne. Über gesellschaftliche Tabus wie Fehlgeburten und die Menstruation wird offen und ohne Peinlichkeit gesprochen.

Ironischerweise hat der einzige Schauspieler – anders als im wirklichen Leben – eine typisch weibliche Rolle: In seiner Jacke stecken Gummihandschuhe, weil es zu seinen Pflichten gehört, den Frauen hinterherzuputzen. Und er hat mit einem hypermodernen Staubsauger einiges zu tun, weil Slime und Götterspeise in der Aufführung Hundekot, Austern und Menstruationsblut vertreten.

Austernkeller musste nach fast 50-jährigem Bestehen schließen

Max Mayer spielt gegen Ende genderfluid auch eine Frau, davor ist er jenseits seiner stummen Dienerrolle vor allem der unangenehm ölig auf Umsatz und pseudo-einfühlsame Gastlichkeit bedachte Kellner des Austernkellers.

Das warf beim Lesen des Romans und in der Aufführung die Frage auf, ob dieses Lokal überhaupt noch existiert. Und da gibt es Trauriges zu vermelden. Ein Aushang vermeldet anstelle der Speisekarte in der Stollbergstraße, dass der Austernkeller nach fast 50-jährigem Bestehen schließen musste.

Gegenwärtige Figuren und unterhaltsame Leichtigkeit im Münchner Marstall

Dabei wäre das doch der ideale Ort gewesen, um nach der Premiere mindestens eine gute Flasche Champagner zu köpfen. Denn die "Spitzenreiterinnen" haben alles, was zu einem perfekten Theaterabend gehört: exzellent gespielte gegenwärtige Figuren mit heutigen und durchaus nicht abgehobenen Problemen, die ohne Überheblichkeit dargestellt werden, eine unterhaltsame Leichtigkeit und ein Bewusstsein für ungelöste Probleme in wohl jeder Partnerschaft.

Männlich gelesene Besucher mögen anfangs vielleicht befürchten, sich versehentlich aufs Damenklo verirrt zu haben. Aber das legt sich, und gerade diese Irritation ist das Beste dieses exemplarisch gelungenen Abends im Marstall.


Marstall, wieder am 1., 2., 11., 13. Juni, ausverkauft, eventuell Restkarten an der Abendkasse. Jovana Reisingers Roman erschien 2021 im Verbrecher Verlag (270 Seiten, 22 Euro)

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