"Der Drang" im Marstall: Irgendwann muss es raus
Gut Ding will Weile haben, heißt es ja bekanntlich. Aber so eine Theaterpremiere sollte schon termingerecht gespielt werden, probt doch jedes Mal ein ganzes Team exakt auf dieses eine Ziel hin, entfesselt gerade in den Endproben die kreativen Kräfte, ja, entwickelt einen regelrechten Drang!
In Zeiten der Pandemie sind nun Pläne die eine Sache, die Verwirklichung derselben aber eine völlig andere. Davon kann auch Christoph Franken, seit zweieinhalb Jahren Ensemblemitglied des Bayerischen Staatsschauspiels, ein Lied singen und zwar ein Lied, das gleich mehrere Strophen hat.
Plötzlich erkrankte ein wichtiger Darsteller
Zunächst mal war er für Lydia Steiers Inszenierung von "Der Drang" gar nicht vorgesehen - ein Stück von Franz Xaver Kroetz, anvisierter Premierentermin: 12. März 2020. "Drei Wochen vor der Premiere rief mich Intendant Andreas Beck a n."
Der Schauspieler, der die Figur des Otto spielen sollte, war erkrankt - nicht an Corona, das war noch davor - und fiel für einige Zeit aus. Beck sagte mir, Christoph, ich brauche dich. Komm' bitte morgen in mein Büro, dann lernst du Lydia Steier kennen."
"Wir wollten noch die Generalprobe spielen"
Franken schaffte sich den Text innerhalb kürzester Zeit drauf. Im Laufe der Proben rückte dann das Corona-Virus immer näher. Und der erste Lockdown. "Uns war Anfang März klar, dass es mit der Premiere nichts mehr werden wird. Wir wollten aber noch die Generalprobe spielen und am 12. März eine interne Premiere. Es gibt in der Inszenierung eine Pause, der erste Teil endet mit einem Black. Kurz davor ging bei der Generalprobe eine Flasche zu Bruch. Weil wir einen Abgang geändert hatten, bin ich statt hinten vorne über die Bühne gelaufen. Und trat in die Scherben."
Die interne Premiere wurde abgesagt, Franken wurde der Fuß mit vier Stichen genäht. Jetzt, zwei Jahre später, sollte die Premiere endlich stattfinden. Neuer Termin: 11. Februar 2022. Frankens Fuß war längst geheilt; den Text habe er schnell wieder abrufen können. "Das ist ja ein sehr überzeichneter Abend, auch von den Kostümen und der Ausstattung her. Da kommt vieles beim Spielen zurück."
Zu dumm nur, dass erneut das Virus zuschlug. Lydia Steier und eine Kollegin fingen sich Omikron ein. Nachdem sie wieder gesund waren, wurde Franken selbst positiv getestet. Nach zwei Wochen Quarantäne negativ. Letzten Samstag wieder positiv. Am Montag kam eine Kehlkopfentzündung dazu. Franken musste zwei Tage lang schweigen. Wurde frei getestet. Am letzten Mittwoch konnte das Team dann erstmals wieder gemeinsam proben. Premiere ist am Freitag.
Kroetz nimmt kein Platz vor den Mund
Die Verzögerungen passen dabei ganz gut zum Stück, denn von einer gewissen Ladehemmung kann auch im "Drang" die Rede sein. Besser gesagt: Die Produktion leidet an Premierenstau, Friedhofsgärtner Otto an Samenstau. Zu Beginn von Kroetz' Stück bemüht er sich redlich im Bett, aber seine Frau Hilde hat offensichtlich keine Lust.
Es sind die Abnutzungserscheinungen einer langjährigen Ehe, ach, für die Vertagung der Triebabfuhr braucht es nicht einmal ein Virus. Otto bleibt da nur der Gang auf die Toilette. "Otto ist inzwischen auf dem Klo und wichst sich aus, dabei grimassiert er in den Spiegel." So direkt formuliert das Kroetz und nimmt auch sonst kein Blatt vor den Mund.
"Das ist schon eine derbe Komödie", bestätigt Christoph Franken, "und war schon damals eine Farce über die Doppelmoral der bayerischen Kleinbürger." Unter dem Titel "Lieber Fritz" hatte Kroetz 1975 eine erste Fassung seiner "Sexualkomödie" geschrieben. Die Überarbeitung, betitelt mit "Der Drang", brachte er 1994 in den Kammerspielen als Regisseur selbst zur Uraufführung, mit Edgar Selge als Otto, Franziska Walser als Hilde, Horst Kotterba als Hildes Bruder Fritz und Sibylle Canonica als Angestellte Mitzi.
Das Stück wurde zu den Mühlheimer Theatertagen eingeladen, die Inszenierung zum Berliner Theatertreffen.
"Zu Beginn der Proben, vor Corona, fand ich Masken noch witzig"
"Natürlich hat sich die Gesellschaft weitergedreht. Aber diese Mechanismen der Unterdrückung, von denen Kroetz schreibt, gibt es sicherlich heute auch noch", meint Franken. Der titelgebende "Drang" beziehe sich ja nicht nur aufs Sexuelle, sondern auch "auf den Drang zur Gewalt, im Fall von Mitzi gar zur Liebe".
Eine zeitweilige Triebexplosion löst Hildes Bruder Fritz aus. Angeblich kehrt er aus den USA zurück, wurde aber in Wahrheit gerade aus dem Knast entlassen, wo er wegen eines sexuellen Delikts einsaß. Als Fritz kräftig hustet, befürchtet Otto, dass er Aids aus dem Gefängnis mitgebracht habe. "Als wir das vor zwei Jahren, also noch vor Corona geprobt haben, fand ich es witzig, mir eine FFP2-Maske zu holen. Ich kannte das von Touristen aus Asien und dachte mir, dass Otto sich das anziehen könnte. Heute gehört diese Maske zu unserem Alltag!"
"In der Überzeichnung erscheinen Sehnsüchte"
Stark geschminkt und maskiert ist das ganze Team, nicht nur was die Gesichter angeht: Neben Franken tragen auch Nicola Kirsch (Hilde), Liliana Amuat (Mitzi) und Vincent Glander (Fritz) bunte Fat-Suits. Inspiriert von 80-Jahre-Trash und Zeichentrick-Sitcoms wie "South Park" lässt Lydia Steier das naturalistische Stück ins Comichafte wuchern.
Das Kroetzsche Herz, das in jeder noch so widerlichen Figur pocht, würde dabei jedoch nicht verloren gehen, findet Franken. "Ich habe schon das Gefühl, dass man in der Überzeichnung an eine Essenz rankommen kann, dass da Sehnsüchte hervorscheinen."
Einen ähnlichen toxischen Typen verkörperte er zuletzt in "Agnes Bernauer" - noch ein Stück von Kroetz, in dem er die Spießer von ihrer übelsten Seite zeigt. Der von Franken verkörperte Ernst macht seinen Profit mit dem Verkauf von Rosenkränzen, ist also ähnlich wie Otto ein Geschäftsmann. "Und beiden ist ihr Ruf wichtig. Ihre Sätze kann man teilweise wirklich von einem Stück ins andere tauschen."
Am Ende gewinnt der Drang
Waschechtes Baierisch würde das Spielteam, mit Vincent Glander als einzigem gebürtigen Münchner, nicht sprechen. Das könne er, Franken, als "Kölscher Jung" sowieso nicht, obwohl er einst an der Otto Falckenberg Schule studierte, bevor er ein erstes Engagement in Hannover antrat und dann für zehn Jahre ans Deutsche Theater in Berlin ging. Einige Sätze hätte man nun "eingedeutscht" oder spräche eben diese Kroetzsche Kunstsprache, die sich durchaus ans Baierische anlehnt und doch ganz eigen ist.
Das Stück, der ganze Kroetz mache ihm Spaß, sagt Franken. "Da wird zwar nicht gerade mit dem feinen Florett gefochten, aber die Figuren haben etwas zu verteidigen. Ihren Gedanken kann man sehr gut folgen." Zum Stich kommt Otto übrigens zwischendurch dann doch, ganz überraschend bei Mitzi. Die schmeißt sich zuerst an Fritz ran, entlarvt den aber als gar nicht so pervers wie gedacht und sucht dann die Liebe beim triebgesteuerten Friedhofsgärtner. Total besoffen vögeln beide miteinander, der Drang zum Sex bricht sich Bahn, und der Drang zum Spiel bei dieser Premiere natürlich, endlich, endlich, auch.
Die Premiere 4. März 2022, 20 Uhr, ist bereits ausverkauft. Restkarten eventuell an der Abendkasse.
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