Lea Ypi und ihre Biografie: Von wahrer und falscher Freiheit
Meine Eltern hatten jahrelang auf ein Kind gewartet, mehr oder weniger seit der Unterzeichnung der Schlussakte von Helsinki im August 1975, wie mein Vater gerne sagte", schreibt Lea Ypi in ihrer autobiografischen Erzählung "Frei" (Suhrkamp, 334 Seiten, 28 Euro) und setzt den ironischen Ton, mit dem sie ihre Kindheit in Albanien aufrollt.
Lea Ypi: Erst Frühchen in Tirana, später glühende Pionierin
Zwar hat sie als 1979 in Tirana geborenes Frühchen kaum mehr Überlebenschancen als "die amerikanischen Diplomaten in Teheran" (wieder der Vater), aber bekanntlich kamen ja auch diese frei - und Lea wurde ein gesundes Kind und eine glühende Pionierin.
Als "Onkel Enver" am 11. April 1985 nach vier Jahrzehnten an der Spitze des Landes stirbt, beruhigt die Kindergärtnerin die Kleinen, dass sein Werk und die Partei weiterleben werden. Nur in Leas Familie scheint irgendetwas nicht zu stimmen, die Eltern weigern sich unter immer neuen fadenscheinigen Vorwänden, ein gerahmtes Bild des Diktators im Wohnzimmer aufzustellen, wie Lea es von den Wohnungen der Freunde kennt.
Verlust einer leeren Cola-Dose führt zu Zerwürfnis mit den Nachbarn
Und als sie im Moralkundeunterricht erfährt, dass es früher so etwas wie Religion gegeben habe - in Albanien 1967 von der Partei abgeschafft - fragt Lea Zuhause, ob "wir Leute kennen, die früher Muslime waren? 'Wir sind Muslime', antwortete meine Mutter."
Die aus Kinderblick geschilderte aIbanische Normalität in dem völlig abgeschotteten Land streift die bittere Armut nur am Rande, als nämlich der Verlust einer leeren Cola-Dose, ein absolutes Statussymbol, meist auf Häkeldeckchen im Wohnzimmer präsentiert, zum monatelangen Zerwürfnis mit den Nachbarn führt, die nun plötzlich selbst eine präsentieren können.
Der Bruch im Buch und in der Geschichte beginnt 1990, als das Volk Demokratie und Freiheit fordert und das System stürzt. Auch Lea erfährt nun, dass ihr Urgroßvater jener Ministerpräsident Xhafer Ypi war, der nach der Flucht von König Zogus 1939 die Machtübergabe an die faschistischen Italiener arrangierte und ein Jahr später bei einem Luftangriff starb. Noch Leas Vater, der Enkel des "Volksverräters", wurde für seine "falsche Biografie" bestraft, indem er zunächst nicht studieren durfte und dann nicht Mathematik, obwohl er die Schülerolympiade gewonnen hatte.
"Lotterieaufstand" 1999: Plünderungen, bürgerkriegsartigen Szenen und rund 2.000 Tote
Im zweiten Teil des bewundernswert erhellenden Buches, spricht dann mehr die an Marx geschulte Philosophin und Politikwissenschaftlerin. Denn die neue Freiheit hatte für die zu Zehntausenden fliehenden Albaner enge Grenzen. Jahrzehntelang hatte der Westen seine moralische Überlegenheit über ein System behauptet, das seine Menschen einsperrt, die "freien" Albaner wiederum, will aber nach 1990 niemand einreisen lassen.
In den "Wendejahren" folgt nun die Strukturreform: Kredite von der Weltbank, Abwicklung von Betrieben, Massenarbeitslosigkeit. Es kommt noch schlimmer. Der Zusammenbruch eines wirtschaftlichen Pyramidensystems, in das über die Hälfte der Albaner - auch Leas Familie - ihr Erspartes investiert hatten, führt 1997 zum "Lotterieaufstand", landesweiten Plünderungen, bürgerkriegsartigen Szenen und rund 2.000 Toten. Und Leas Mutter flieht mit ihrem Sohn nach Italien.
Lea Ypi schreibt ein bemerkenswertes und unbedingt empfehlenswertes Buch
Lea, zurückgelassen in der Familienwohnung liest "Krieg und Frieden" in vier Tagen und notiert ins Tagebuch: "Angeblich hat Turgenew geschrieben, dass es in dem Buch Unerträgliches gibt und auch Wundervolles, wobei das Wundervolle überwiegt. Ich fand nichts unerträglich." Der albanische Alltag ist eine Schule der Abhärtung, aber nach dem Schulabschluss verlässt auch Lea das Land und beginnt ein Studium in Italien.
Inzwischen ist die 43-jährige Professorin für politische Theorie an der London School of Economics und hat nach mehreren Sachbüchern mit "Frei" ein bemerkenswertes und unbedingt empfehlenswertes Buch über die wahren und falschen Freiheiten des Lebens verfasst, das weit mehr ist als ihre Lebensgeschichte.
"Frei" gibt es als vollständige Lesung auf Bayern 2 in der BR-Audiothek - gelesen von Katja Bürkle.