Flüchtlinge in Bayern – Ärztin aus Ukraine darf in Deutschland nicht arbeiten: "Will Steuern zahlen"

Aus der Ukraine flohen vor allem gut ausgebildete Menschen nach Deutschland. Warum viele bislang nicht arbeiten, zeigt das Beispiel von Ärztin Anna Komisarenko.
Tobias Lill, Oleksandra Kolomiets |
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Anna Komisarenko in ihrer neuen Heimat Isen.
Anna Komisarenko in ihrer neuen Heimat Isen. © Tobias Lill

Isen - Es war dieser eine Moment, in dem Anna Komisarenko endgültig klar wurde, dass sie ihre Heimat verlassen muss. "Ein russischer Panzer rollte vor meinen Augen durch Kiew", erinnert sich die 44-jährige Ärztin. Um 4.20 Uhr morgens hatte sie an jenem Tag ihren damals zehnjährigen Sohn geweckt und ihm gesagt: "Sohn, der Krieg ist bei uns daheim angekommen."

Im Hintergrund war das Donnern des russischen Beschusses zu hören. Aus Angst vor Putins Bomben und Raketen flohen beide wie so viele Kiewer zunächst in eine nahegelegene U-Bahnstation, kauerten sich eng zusammen. Später wieder an der Oberfläche sah Komisarenko den Panzer. Sie packten das Nötigste und fuhren gemeinsam mit ihren Eltern mit dem Auto nach Deutschland.

Sie kann das Heulen der Sirenen nicht vergessen

Rund zwei Jahre ist das nun her. Heute lebt die Ukrainerin mit ihrer Familie und zwei Hunden im 40 Kilometer östlich von München gelegenen Isen – doch die schrecklichen Erlebnisse des russischen Überfalls Ende Februar 2022 lassen sich nicht einfach ablegen wie ein altes Paar Schuhe. Komisarenko kann das Heulen der Sirenen beim Luftalarm nicht vergessen. In den ersten Monaten in ihrer neuen oberbayerischen Heimat zuckte die Medizinerin ein ums andere Mal zusammen, wenn sie das Dröhnen eines Flugzeugs hörte.

Anna Komisarenko (r., oben) und ihre Familie. Das Bild stammt noch aus der Ukraine.
Anna Komisarenko (r., oben) und ihre Familie. Das Bild stammt noch aus der Ukraine. © privat

Der Großteil ihrer Freunde blieb ebenso wie einzelne Familienmitglieder in der Ukraine. Anna Komisarenko kramt ihr Handy heraus und zeigt den Besuchern Fotos von zahlreichen Ärzten – teils in Uniform, teils im weißen Kittel. Ein befreundeter Chefarzt hilft an der Front, ein anderer arbeitet für ein Projekt für von russischen Soldaten misshandelte Frauen.

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Komisarenko ging aus Angst um ihre Familie in den Westen. Doch obwohl hierzulande Ärztemangel herrscht, darf sie nicht arbeiten. Dabei lebt Komisarenko gerne auf dem flachen Land, wo teils hohe Prämien für Neuansiedlungen von Medizinern gezahlt werden.

Anna Komisarenko hat viele Jahre in Kiew als Ärztin praktiziert 

Komisarenko hat viele Jahre in Kiewer Kliniken praktiziert – dennoch erkennen die deutschen Behörden ihren Studienabschluss nicht ohne weiteres an. Auch die besonders strengen Anforderungen an die Sprachkenntnisse von Medizinern hindern Komisarenko am Wiedereinstieg in ihren Job. Letzteres kann die Ukrainerin, die bereits gut Deutsch spricht, durchaus nachvollziehen. Sie würde aber gerne in einer Arztpraxis unterstützen – doch das zuständige Jobcenter will sie nach ihrer Aussage bestenfalls als Pflegehilfskraft zu Niedriglöhnen arbeiten lassen.

Und so lebt die top ausgebildete und hoch motivierte Komisarenko wie rund 700.000 weitere Landsleute vom Bürgergeld. Zuletzt hatte hierzulande nur knapp jeder fünfte der nach Deutschland geflohenen Ukrainer einen sozialversicherungspflichtigen Job. In anderen EU-Ländern ist die Beschäftigungsquote zumeist deutlich höher.

Langwierige bürokratische Verfahren

Doch wieso holpert es bei der Integration der Ukrainer auf dem Arbeitsmarkt so? Für Dietrich Thränhard, Politikwissenschaftler der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung (FES), ist die Antwort klar: "Das liegt an langwierigen bürokratischen Verfahren, beispielsweise bei der Anerkennung von medizinischen Abschlüssen und an überhöhten Sprachanforderungen von Arbeitgebern." Eine Rolle spiele auch "die ständige Hoffnung der Flüchtlinge, bald zurückkehren zu können", sagt er der AZ.

Das Team um Thränhard hat in einer Studie nachgewiesen, dass in EU-Staaten, in denen es einen einfachen Zugang zum Arbeitsmarkt gibt, weit mehr ukrainische Schutzsuchende in Lohn und Brot sind als in Deutschland. Die FES-Forscher monieren hierzulande massive bürokratische Hürden. In Polen, Tschechien oder Dänemark gebe es anders als in Deutschland digitale Verfahren, um den Prozess vom Rechtsstatus bis zur Arbeitserlaubnis in einem Schritt zu ermöglichen.

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Auch bei den Unternehmungsgründungen seien die Abläufe in der Bundesrepublik komplizierter als anderswo. Fakt ist: In Polen etwa geht mittlerweile ein großer Teil der Firmengründungen auf Ukrainer zurück. Statt von Unterstützung zu leben, kurbeln sie die dortige Volkswirtschaft an.

Wartezeiten von anderthalb Jahren

Eine Hauptursache für die deutsche Misere sind unstrittig die langwierige Verfahren bei der Anerkennung von Berufsabschlüssen. Wartezeiten von bis zu anderthalb Jahren sind keine Seltenheit – im medizinischen Bereich sogar noch länger. In Italien und der Slowakei können ukrainische Ärzte dagegen ohne Weiteres eingestellt werden.

Ein weiterer Grund für die geringe Beschäftigungsquote sind aus Sicht von manchen Experten die in Deutschland relativ hohen Sozialleistungen. Vonseiten der Wirtschaft und der Union wird seit Monaten kritisiert, das zuletzt deutlich erhöhte Bürgergeld sorge dafür, dass sich Arbeit für viele Ukrainer nicht mehr lohne. So berichten etwa Gastronomen, dass manche ukrainischen, aber auch deutsche Mitarbeiter nach der jüngsten Bürgergelderhöhung gekündigt hätten. Die Regelungen, laut der Ukrainer anders als andere Flüchtlinge vom ersten Tag Bürgergeld bekommen, müsse gekippt werden, fordert die CDU.

Anders als bei einfachen Arbeitskräften wäre eine Jobaufnahme bei sehr gut ausgebildeten Zuwanderern um jeden Preis in vielen Fällen aber wohl kontraproduktiv – schließlich besteht die Gefahr, dass sie dauerhaft im Niedriglohnsektor landen. Klar ist: Das Bildungsniveau der ukrainischen Flüchtlinge ist im Vergleich mit der deutschen Gesamtbevölkerung überdurchschnittlich hoch: Je nach Erhebung gut die Hälfte bis knapp drei Viertel von ihnen haben einen Hochschul- oder Fachhochschulabschluss. Viele haben Abschlüsse in den für den rohstoffarmen Standort Deutschland ungemein wichtigen technischen Berufen – oder wie Komisarenko im medizinischen Bereich.

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Auf die Frage, ob sie wegen des Bürgergelds in Deutschland sei, schüttelt Komisarenko den Kopf, bevor sie an ihrer Kaffeetasse nippt. Im Gegenteil: Die ersten Wochen in Bayern verzichtete sie darauf, staatliche Hilfen zu beantragen, lebte von Erspartem. Sie will lieber heute als morgen wieder arbeiten. "Ich bin Deutschland sehr dankbar. Ich will Steuern zahlen", sagt die Akademikerin. Die Fachärztin hat in Kiew in einem besseren Viertel gelebt, gehörte zu den Gutverdienern. Außer einem Mittelklassewagen ist ihr vom einstigen Wohlstand nicht viel geblieben.

 33 von 33 Punkten im Migrations-Kurs erreicht

Komisarenko blättert durch einen Ordner. Zahlreiche amtliche Schreiben hat sie darin gesammelt. Sie holt eine Urkunde hervor. "Leben in Deutschland" steht darauf. 33 von 33 Punkten hat sie bei dem Kurs des Bundesamts für Migration erzielt. Auch ihr Sohn, der das Gymnasium besucht, glänzt mit Höchstleistungen. Urkunden von Spitzenplätzen bei Schachturnieren hängen an der Wand.

Neben Anna Komisarenkos Laptop liegt auf ihrem Arbeitstisch ein Deutschbuch. "Ich verbringe gerade viel Zeit mit dem Lernen der Sprache", sagt sie. Trotz ihres Fleißes wurde sie jedoch nach eigener Aussage ebenso wie mehrere andere ukrainische Ärzte für die Deutschprüfung auf B2-Niveau gar nicht erst zugelassen.

Anna Komisarenko: "Meine neue Heimat ist Deutschland"

Drei ihrer Kollegen arbeiten auf Vermittlung des Jobcenters als Pflegehilfskräfte. Für Komisarenko ist dies keine Option. Sie wolle sich eine dauerhafte Existenz in Deutschland aufbauen – und dazu gehöre, dass sie ihren Beruf als Onkologin ausüben könne. Ein ums andere Mal betont Komisarenko wie "unendlich dankbar sie den vielen Deutschen ist, die auch nach zwei Jahren Krieg noch immer so hilfsbereit sind".

Ob sie noch oft an die Ukraine denkt? Sie blickt auf eine Landkarte, die Osteuropa vor den russischen Attacken 2014 und 2022 zeigt. Auch die Krim und die gesamte Ostukraine waren damals noch blau-gelb. Natürlich hofft sie, dass Kiew irgendwann wieder die Kontrolle über das gesamte Staatsgebiet hat. Aber für Komisarenko ist klar: "Meine neue Heimat ist Deutschland."

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46 Kommentare
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  • Besserwisser111 am 18.03.2024 01:51 Uhr / Bewertung:

    Na und? Wenn man Arbeit braucht...

  • Der wahre tscharlie am 17.03.2024 13:54 Uhr / Bewertung:

    Ich merke wieder mal, dass WE ist. Meine Kommentare fliegen reihenwiese raus. grinsen

  • BlackLandy am 17.03.2024 12:39 Uhr / Bewertung:

    Mir platzt echt der Kragen wenn ich hier so Sätze lese wie " warum ist sie nicht bereit ihren Anteil zur Verteidigung ihres Landes zu leisten " - " an der Front werden sicherlich dringend Ärzte gebraucht " oder " wenn es ihr hier nicht gefällt kann sie ja zurück dort wird sie sicherlich mehr gebraucht "
    Sie ist mit ihrem Sohn geflüchtet weil dort " KRIEG " stattfindet und sie einfach nur Angst um das Leben ihres Sohnes und ihr eigenes hat.
    Nur mal als Info an alle " Pantoffelhelden " KRIEG ( Tod,Folter,Vergewaltigung ) ist nicht " Paintball "
    oder mit der " X-Box oder Playstation " rumzuballern.
    Das letzte was die Frau jetzt braucht sind Belehrungen wo sie was zu tun hat,vor allem nicht von Menschen die sich mit hoher Wahrscheinlichkeit noch nie in unmittelbarer Nähe eines Kriegsgebietes aufgehalten haben!!!

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