Behörden in Bayern wittern Sozialbetrug: Werden Geflüchtete jetzt unter Generalverdacht gestellt?

Sind ein Teil der als Flüchtlinge nach Deutschland gekommenen Roma mit ukrainischen Pässen nur bloße Trittbrettfahrer? Behörden in Bayern berichten von Sozialbetrug. Roma-Vertreter wehren sich. Wer hat Recht?
Tobias Lill |
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Werden Roma in Bayern diskriminiert? (Symbolbild)
Werden Roma in Bayern diskriminiert? (Symbolbild) © Foto: xTabeaxGuenzler/Eibner-Pressefotox POL/imago

München - Der Streit um den Sozialbetrug-Verdacht gegen einen Teil der ukrainischen Flüchtlinge mit Roma-Hintergrund spitzt sich zu. Der bayerische Landesverband des Verbands Deutscher Sinti und Roma wirft Behörden Schikanen gegen ukrainische Roma vor.

"Berichte aus verschiedenen bayerischen Landkreisen geben Anlass zur Sorge, dass es eine Ungleichbehandlung von geflüchteten ukrainischen Roma beziehungsweise von Menschen, die als Roma wahrgenommen werden, gibt", sagt dessen Vorsitzender Erich Schneeberger der AZ. So müssten "als Roma wahrgenommene Geflüchtete in einigen Landkreisen zusätzlich zu ihrem Passdokument weitere Nachweise zum Beleg ihrer ukrainischen Herkunft beibringen". Behördenmitarbeiter verlangten etwa Meldebescheinigungen, Schulbestätigungen oder Einkaufsquittungen, um den Aufenthalt in der Ukraine zu belegen.

Schneeberger ärgert sich, dass auf kommunaler Ebene die Echtheit der ukrainischen Pässe bezweifelt werde. Er kritisiert: "Eine derartige Praxis trifft die der Mehrheitsbevölkerung angehörenden Ukrainer nicht, zumindest nicht in diesem Ausmaß." Er wirft einem Teil der Landratsämter Diskriminierung vor.

"Die dem Landesverband vorliegenden Informationen weisen darauf hin, dass diese verschärfte Nachweispflicht häufig antiziganistisch begründet wird, indem man auf das gängige Vorurteil der angeblichen Ausnutzung des Sozialsystems durch Roma zurückgreift." Zuletzt hatten mehrere oberbayerische Landkreise einen schweren Verdacht gegen einen Teil der als ukrainische Kriegsflüchtlinge gekommenen Roma geäußert.

Flüchtlinge in Bayern: Haben manche in Wahrheit einen ungarischen Pass?

So geht man etwa im Fürstenfeldbrucker Landratsamt davon aus, dass manche als Schutzsuchende in den Landkreis gekommenen Angehörigen der Minderheit in Wahrheit neben der ukrainischen auch eine ungarische Staatsbürgerschaft haben.

Die Rede ist von mutmaßlichem Sozialbetrug. Denn Flüchtlinge, die ausschließlich die ukrainische Staatsbürgerschaft besitzen, bekommen vom ersten Tag an Bürgergeld in voller Höhe – haben sie dagegen auch einen ungarischen Pass, gehen sie leer aus. Schließlich haben EU-Ausländer in Deutschland in der Regel nur Ansprüche auf Sozialleistungen, wenn sie hier längere Zeit gearbeitet haben.

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Im Herbst schätzte das Fürstenfeldbrucker Landratsamt die Zahl der mutmaßlich ukrainischen Roma in den Flüchtlingsunterkünften im Brucker Landkreis auf rund 100. Gut 80 von ihnen hätten laut Landrat Thomas Karmasin "auf wundersame Weise meistens ganz druckfrische ukrainische Pässe". Viele der Roma würden jedoch Ungarisch sprechen. Der CSU-Politiker sagte der AZ im Oktober: "Dass diese Familien - vor allem diese Vielzahl - ihr gesamtes Leben lang ohne Identitätsdokumente waren, halten wir für sehr unwahrscheinlich und lebensfremd."

Nicht nur in Fürstenfeldbruck gingen Behörden in den vergangenen Monaten dem Verdacht nach, dass ukrainische Flüchtlinge den Besitz eines zusätzlichen ungarischen Passes verheimlichen.

Eine behelfsmäßige Unterkunft für Geflüchtete aus der Ukraine im bayerischen Kirchseeon.
Eine behelfsmäßige Unterkunft für Geflüchtete aus der Ukraine im bayerischen Kirchseeon. © Foto: Wolfgang Maria Weber/ imago

Nicht wenige Flüchtlinge sollen ungarisch sprechen

Eine Sprecherin des Landratsamts Rosenheim sagte der AZ: Vor allem die seit Anfang 2023 zuziehenden ukrainischen Flüchtlinge mit Roma-Hintergrund würden "meist neu ausgestellte Reisepässe besitzen". Ein Teil dieser Menschen würde Ungarisch sprechen. "Viele können im anschließenden Verwaltungsverfahren ihre Schutzberechtigung nicht geltend machen, da sie nicht nachweisen können, vor Kriegsausbruch in der Ukraine gelebt zu haben."

Besonders betroffen von dem Phänomen ist offenbar der Großraum München. Das Tölzer Landratsamt teilte mit, die aus dem ukrainischen Grenzgebiet in den Landkreis Bad Tölz – Wolfratshausen gekommenen Flüchtlinge "mit neu ausgestellten Reisepässen" würden "oft Ungarisch sprechen".

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Auch reisten sie "häufig für nur wenige Tage zum Monatsende beziehungsweise Monatsanfang in einen EU-Staat" – meist nach Ungarn oder Rumänien. Eine Sprecherin des Dachauer Landratsamts sagte der AZ, ihre Behörde gehe "von gut 60 Personen aus, bei denen der Verdacht auf die ungarische Staatsangehörigkeit besteht". Auch in anderen Landratsämtern kennt man die Problematik.

150.000 Flüchtlinge aus der Ukraine in Bayern

Rund 150.000 ukrainische Flüchtlinge leben derzeit in Bayern – wie hoch der Anteil der Roma ist, wird nicht erfasst. Wegen des Verdachts, dass Roma aus der Westukraine neben ukrainischen auch ungarische Pässe hätten, haben sich diverse Landkreise an die Bezirksregierungen gewandt.

Das bayerische Innenministerium hat bis Oktober rund 1.200 Verdachtsfälle zur Überprüfung an den Bund weitergegeben. Bei den Staatsanwaltschaften war Sozialbetrug von angeblichen oder tatsächlichen Ukrainern allerdings zumindest zuletzt kein großes Thema - darauf deuten AZ-Anfragen im Oktober bei einzelnen bayerischen Strafermittlungsbehörden hin.

Mehmet Daimagüler.
Mehmet Daimagüler. © Foto: dpa

Vertreter der Roma sehen nun eine Minderheit durch bayerische Behörden unter Generalverdacht gestellt. Mehmet Daimagüler ärgert sich, dass Karmasin und diverse Landratsämter den Verdacht des Sozialbetrugs äußern, obwohl es seines Wissens keine Verurteilungen gebe.

"Natürlich wird es unter den Geflüchteten aus der Ukraine auch Fälle von Doppelstaatsbürgerschaften geben, nicht nur bei denen mit einem Roma-Hintergrund. Und dem muss in einem rechtsstaatlich sauberen Verfahren nachgegangen werden", sagt der Antiziganismusbeauftragte der Bundesregierung der AZ. Die Zahl von 1200 Verdachtsfällen scheine jedoch darauf hinzudeuten, "dass es sich um wenige Ausnahmefälle handelt". Wie viele dieser Verdachtsfälle wirklich rechtswidrig sind, bleibe abzuwarten. Daimagüler sagt: "Ob Straftaten vorliegen, entscheiden Gerichte und nicht Landratsämter."

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Warum die Flüchtlinge kommen, hat womöglich einen einfachen Grund

Für die große Zahl an neuen Dokumenten könne es eine einfache Erklärung geben: "Die Ukraine hat vielen Roma schlicht jahrelang einen Pass verweigert. Viele Roma haben zudem im Alltag bis Kriegsbeginn nie einen Ausweis gebraucht", sagt Daimagüler. Ihn würde auch interessieren, "wie neu oder alt die Ausweise der Geflüchteten aus der Ukraine insgesamt sind".

Doch warum sprechen viele der als Kriegsflüchtlinge gekommenen Roma Landratsämtern zufolge Ungarisch und ein Teil kaum oder kein Ukrainisch? "Es gibt in der Ukraine verschiedene Minderheiten, die andere Sprachen sprechen", so Daimagüler. Viele Roma würden in der Ukraine "bereits als Kinder in den Schulen ausgegrenzt und lernten nie oder wenig Ukrainisch". Sie würden Zuhause Romanes oder Ungarisch sprechen.

Bis heute gebe es spezielle Bildungseinrichtungen für Roma. Daimagüler hat die Minderheit der Roma in der Westukraine besucht. "Viele leben in bitterer Armut." Er spricht von "einem segregierend-rassistischem System". Daimagüler: "Ich habe Menschen getroffen, die seit Jahren in Wäldern leben müssen."

Sozialbetrug: Alle Flüchtlinge unter Generalverdacht?

Auch in Bezug auf manche bayerischen Behörden findet Daimagüler deutliche Worte. Es falle auf, dass im "Zusammenhang mit Sozialbetrug eben immer nur von einer Gruppe gesprochen wird, und das, obwohl hier noch gar nichts solide festgestellt wurde." Er hätte sich gewünscht, dass Karmasin bevor er an die Öffentlichkeit geht, "sich erst ein besseres Bild der Situation macht" – etwa durch Gespräche mit Betroffenen oder der Selbstorganisationen der Roma.

Karmasin, der auch bayerischer Landkreistagspräsident ist, weist die Vorwürfe zurück. "Wir stellen niemanden unter Generalverdacht, sondern wir haben über einzelne, wenn auch gehäufte Straftaten (Sozialbetrug) berichtet", teilt er der AZ mit. Anhaltspunkten für eine EU-Staatsangehörigkeit müsse nachgegangen werden. "Ich kritisiere Missstände grundsätzlich unabhängig davon, von welcher Volksgruppe die Menschen stammen, die sie verursachen. Der geradezu reflexartige Vorwurf des Antiziganismus ist absurd."

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39 Kommentare
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  • Chris_1860 am 11.12.2023 10:52 Uhr / Bewertung:

    Es stellt mitnichten einen Generallverdacht dar, Denn fast alle Überprüften sprachen mit ungarischem Dialekt und hatten druckfrische ukrainische Pässe. Das ist überprüfenswert.

    Siehe auch der AZ-Artikel vom 8.11.23: abendzeitung-muenchen.de/politik/druckfrische-paesse-sozialbetrug-bei-ausweisdokumenten-von-gefluechteten-aus-der-ukraine-art-938536

  • BingoMuc am 10.12.2023 10:24 Uhr / Bewertung:

    Bei uns wird so großzügig verteilt, da braucht doch keiner betrügen

  • SL am 10.12.2023 09:58 Uhr / Bewertung:

    Neben Sozialbetrug gibt es ja auch andere Möglichkeiten ohne Arbeit Geld zu bekommen. Eben wird von einem Beamten in Rheinland-Pfalz berichtet, der 5 Jahre im homeoffice ohne Arbeit war und dafür 350.000 Euro kassierte. Der dortige Bürgermeister soll nun für den Schaden aufkommen

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