"Traumspiel meines Lebens": Kommentatorenlegende Derek Rae über das EM-Eröffnungsspiel, Deutschland und die schottischen Fans
München – 1986 begann Derek Rae, im Alter von 19 Jahren, seine Kommentatorenkarriere in Schottland. Heute gehört er zu den bekanntesten Stimmen der Bundesliga – und wird die Heim-EM für Fox Sports begleiten. Im AZ-Interview spricht Rae über das Eröffnungsspiel, das DFB-Team und die schottischen Fans.
AZ: Sie sind seit Jahren, Jahrzehnten die englische Stimme der Bundesliga, erklären den ausländischen Fans die Kultur des deutschen Fußballs. Was bedeutet es für Sie, dass Schottland jetzt eine EM ausgerechnet in Deutschland spielt?
DEREK RAE: Für mich ist es ein Traum. Dieses Eröffnungsspiel ist das Traumspiel meines Lebens. Ich habe mit einem Kollegen bei der DFL gesprochen, gleich vor der Auslosung und habe gesagt, das wäre perfekt, wenn Deutschland gegen Schottland im Auftaktspiel spielen könnte. Dann passiert es tatsächlich auch. Ich glaube, dass es auch für Deutschland etwas Großes ist. Es könnte sein, dass man gegen eine Mannschaft ohne diese gewisse Stimmung spielen würde. Aber mit Schottland kommt das nicht infrage. Der Star der Mannschaft sind die Fans, die „Tartan Army“. Die beiden Mannschaften, die für mich die beiden wichtigsten in meinem Leben sind, wegen der Bundesliga, diesem Draht zur Bundesliga und weil ich aus Schottland stamme.
Sie kommentieren die Bundesliga auf Englisch, für ESPN und im World Feed, für die internationalen Fans. Was begeistert Sie speziell an Deutschland und dem deutschen Fußball?
Die Tatsache, dass die Stimmung komplett anders ist, im Vergleich zu anderen Ligen. Man spürt Deutschland, wenn man kommentiert. Das versuche ich immer als Kommentator zu schaffen. Es ist nicht so, dass es einfach ein Fußballspiel ist, es ist ein deutsches Fußballspiel. Dieses Gefühl muss man haben. Das ist immer so, egal ob ich in München bin, oder Frankfurt oder Köln. Es geht um Deutschland und dieses Gefühl in Deutschland und im deutschen Fußball. Das finde ich einzigartig. Es hat viel mit der Fankultur zu tun. Das hat sich anders entwickelt, im Vergleich mit beispielsweise England oder auch Schottland.
Geht was in der Gruppe für Schottland? "Mann kann nicht unterschätzen, was gegen Spanien passiert ist"
Vor allem aus England gab es sehr viel Respekt für die Qualifikation. Nicht nur, dass es Schottland geschafft hat, sondern vor allem wie sie es geschafft haben, nämlich mit zwei Spielen in der Hinterhand und sechs Punkten vor Norwegen. Was macht diese Mannschaft unter Steve Clarke so besonders?
Steve Clarke hat einen sehr guten Job gemacht, weil er die Mannschaft und die Kultur versteht. Das haben wir in der Qualifikation, hauptsächlich im Heimspiel gegen Spanien, gesehen (2:0-Sieg für Schottland, d. Red.). Es ist diese Mischung aus Selbstvertrauen, Organisation und Leidenschaft. Das Mittelfeld ist der beste Teil der Mannschaft: Billy Gilmour zum Beispiel, sehr vielversprechend. Man kann das Talent erkennen. Er ist der Stratege in dieser Mannschaft. Scott McTominay war der Held gegen Spanien, beide Tore geschossen, fast alle in der Qualifikation (lacht). Er ist auf jeden Fall ein Führungsspieler. John McGinn von Aston Villa hatte eine sehr gute Saison (Platz 4 in der Premier League, d. Red.), zusammen mit Ryan Christie von Bournemouth. Die beiden haben eine große Laufbereitschaft, hinter dem Mittelstürmer.
Vor drei Jahren, bei der Euro 2021, ist Schottland Gruppenletzter geworden. Warum ist diesmal mehr für die Mannschaft drin?
Ich glaube, dass wir eine Entwicklung gesehen haben. Damals war man einfach sehr froh, wieder da zu sein. Das sage ich, weil Schottland, zwischen 1998 und 2021, nicht bei einem großen Turnier (EM oder WM, d. Red.) war. Das ist merkwürdig. Jetzt sehen wir jüngere Spieler, die da und ein bisschen reifer sind, wie zum Beispiel McGinn, der viel gelernt hat. McTominay ebenfalls und auch Andrew Robertson, der so viel mit Liverpool geschafft hat: Champions League, Premier League. Die Mannschaft ist reifer geworden. Das ist mit Steve Clarke auch der Fall. Er hat als Nationaltrainer viel gelernt. Man kann nicht unterschätzen, was gegen Spanien passiert ist. Spanien ist sehr schwer zu bespielen und unglaublich schwer zu besiegen. Schottland hat das geschafft. Das ist für mich ein Beleg dafür, dass alle im Kader etwas gelernt haben, dass die Erfahrung von 2021 etwas genutzt hat.
Schottland und der Kampf gegen die eigene Mentalität: "Man spielt manchmal besser gegen die Großen"
Gleich im ersten Spiel werden die Schotten mit dem DFB-Team auf einen von Julian Nagelsmann wiederbelebten Giganten treffen. Sie haben Frankreich zweimal geschlagen, die Niederlande und jetzt auch eine erfolgreiche Generalprobe gegen Griechenland gefeiert. Wie sind die Erwartungen an das Spiel in Schottland?
Ich würde es so beschreiben: Vor sechs Monaten, gleich nach der Auslosung, hat fast jeder gesagt, das ist eine gute Chance für Schottland. Wir können gegen Deutschland gewinnen. Jetzt ist es anders. Man denkt: Wenn wir ein bisschen Glück haben, kann Schottland vielleicht etwas holen. Ansonsten wird es sehr schwer. Man merkt, was in anderen Ländern passiert und hat die Highlights vom Spiel gegen Frankreich gesehen. Das war sehr stark von Deutschland, mit diesem Tor nach sieben Sekunden. Ich würde sagen, dass die Schotten einerseits realistisch sind aber andererseits auch träumen wollen (lacht). Realistisch ist aber, wenn man nicht gewinnen kann und auch kein Unentschieden schafft, eine hohe Niederlage zu vermeiden, weil die wichtigsten Spiele für Schottland gegen die Schweiz und Ungarn sind.

Dazu hat Steve Clarke etwas Interessantes gesagt: Es gibt immer diese kleine schottische Psyche, diese schottische Mentalität, dass wir immer in Spielen versagen, in denen wir nicht versagen sollten.
(lacht). Das ist die Geschichte von Schottland. 1990 war ich als Kommentator bei der WM in Italien dabei. Schottland war in einer Gruppe mit Brasilien, Schweden und Costa Rica. Es wurde gesagt, dass Brasilien wohl Gruppensieger werden wird. Dahinter geht es um Schweden und Schottland, die beiden sind vergleichbar. Costa Rica wird auf Rang vier landen. Das Auftaktspiel, Schottland gegen Costa Rica: 0:1. Dann musste man gegen Schweden gewinnen. Natürlich hat Schottland das geschafft, 2:1. Gegen Brasilien haben sie das 0:0 bis zur 83. Minute gehalten und dann ein Gegentor kassiert. Schottland war, wie in den alten Zeiten, wieder raus. Das ist öfters mal die Geschichte. Man spielt manchmal besser, gegen die Großen, als gegen die Mannschaften, die in der Theorie auf demselben Niveau sind.
Die "Tartan Army" und das München-Gefühl: "Das wird auf jeden Fall passen"
Wobei die Schotten ihre „Tartan Army“ haben. Bis zu 200.000 Fans sollen nach Deutschland reisen, um die Spiele, aber vor allem auch die Atmosphäre zu genießen und dazu beizutragen. Was kann der deutsche Fan von den Schotten erwarten?
Die schottischen Fans lieben die Partystimmung. Daher wollen sie alle zu den Fußballspielen gehen. Es ist traurig und enttäuschend, dass so viele keine Chance haben, ins Stadion zu gehen, sowohl in München, als auch in Köln und Stuttgart, wo Schottland auch spielt. Es ist Tradition, Kilt zu tragen, Schottenrock. Dudelsäcke wird man auf jeden Fall sehen und hören. Ich habe auch das Gefühl, dass diejenigen, die in München Kneipen besitzen, sehr froh sein werden, dass Schottland dabei ist. Es wird oft gesagt, dass die Schotten geizig sind. Das ist absolut nicht der Fall, wenn es um das Biertrinken geht (lacht). Ich glaube, dass es eine sehr schöne Mischung zwischen Schottland und Deutschland ist, zwischen den beiden Fangruppen. Das wird auf jeden Fall passen.

Sie waren auch schon viele Male in München, haben viele Spiele in der Allianz Arena kommentiert. Was glauben Sie, was den Schotten, außer den Kneipen, an der Stadt gefallen wird?
Die Tatsache, dass München ein besonderes Gefühl hat, anders als andere Städte in Deutschland. Es gibt ein München-Gefühl. Das wird man erkennen. Ich habe vielen Fans gesagt, es ist sehr schön in der Stadt, in der Altstadt. Aber versuch mal vielleicht, die Nachbarschaften zu besuchen. Da wird man das richtige Gefühl erleben. Natürlich geht es um gutes Essen und darum, allerlei Biersorten in München zu probieren. Ich glaube, dass München ein ähnliches Gefühl wie Edinburgh und Glasgow hat. Das merkt man auch, wenn man nach Großbritannien fliegt. Schottland ist anders als England. Und München und Bayern sind anders als Städte in anderen Teilen der Bundesrepublik.
Abschließend, was glauben Sie, mit welchem Ergebnis wird die „Tartan Army“ die Stadt wieder verlassen?
(lacht). Ich versuche, als Kommentator immer ehrlich und realistisch zu sein. Auch wenn es im Herzen sehr schön wäre, wenn Schottland vielleicht ein Unentschieden holen oder auch gewinnen könnte. Realistisch glaube ich, dass Schottland verliert. Aber ich würde sagen, dass die Schotten mindestens ein Tor feiern können. Ich tippe auf 3:1 für Deutschland.