Präsident peinlich: Infantino schießt sich mal wieder ins Abseits
In Hamlet-würdiger Sein-Oder-Nichtsein-Theatralik nahm Gianni Infantino am Tag vor dem Eröffnungsspiel dieser so umstrittenen Fußball-Weltmeisterschaft auf dem Podium im großen Saal des Qatar National Convention Centre den Ball in die Hand.
"Das ist die einzige Waffe, die wir haben. Die Welt ist gespalten genug, eine WM ist eine WM, das ist kein Krieg", sagte der Schweizer Weisheiten-Verkünder angesichts der unmissverständlichen Kritik an Gastgeber Katar und dessen Umgang mit Menschenrechten, Arbeitsmigranten und der Freiheit für die LGBTQI+-Community: "Wir müssen uns kritisch im Spiegel betrachten."
Kein kritischer Blick auf sich selbst
Leider bezog Infantino dieses "Wir" ausschließlich auf die Anderen. Gegen einen kritischen Blick auf sich selber, die Umtriebe des Weltverbandes Fifa, dem er als Präsident vorsteht, verwahrte er sich. So ist es kein Wunder, dass dieser Blick in den Spiegel ein Zerrbild voller Scheinheiligkeit ist. Der Monolog kam einer 60 Minuten und 19 Sekunden dauernden Seligsprechung des Verbandes und simultanen Anklage der Kritiker, der "Ketzer" gleich.
Infantinos Grundsatzrede
"Heute fühle ich mich als Katarer, heute fühle ich mich als Araber. Heute fühle ich mich afrikanisch. Heute fühle ich mich homosexuell. Heute fühle ich mich behindert, heute fühle ich mich als Arbeitsmigrant", begann Infantino, der seit 2016 im Amt ist, seine Grundsatzrede zur Lage der Fußball-WM. Er kenne Mobbing aus eigener Erfahrung, schließlich sei er Kind einer Gastarbeiterfamilie, habe "rote Haare und Sommersprossen gehabt". Der rote Gianni - der Ärmste!
Putin - ein "Freund"
Die erste WM von Infantinos Amtszeit war die 2018 in Russland. Die Bilder, wie er Wladimir Putin umarmt, sorgten schon damals für Kopfschütteln. Die Worte, als er Putin seinen "Freund" nannte, sind unvergessen. Putins Angriffskrieg auf die Ukraine hat Infantino nie als solchen bezeichnet, stattdessen auch in Doha nur salbungsvolle Worte, dass er für einen "Dialog zwischen Russland und der Ukraine" plädiert. Tja, man hört als Hintergrundmusik fast Franz Beckenbauer seinen Hit "Gute Freunde kann niemand trennen...." anstimmen.
Als Infantino darauf hingewiesen wurde, dass er in seiner Rede zu erwähnen vergessen habe, dass er sich "wie eine Frau fühle", rief er ins Mikrofon: "Ich fühle wie eine Frau." Er habe auch "vier Töchter".
Schulterschluss mit Katar
Vier Jahre nach Russland nun der Schulterschluss mit Katar. Dort hat Infantino seinen Zweitwohnsitz. Dem Westen warf Infantino aber "Heuchelei und Doppelmoral" vor. "Ich denke, was wir Europäer in den vergangenen 3.000 Jahren weltweit gemacht haben, da sollten wir uns die nächsten 3.000 Jahre entschuldigen, bevor wir anfangen, moralische Ratschläge an andere zu verteilen."
Keine Zweifel an der Fifa
In seiner Vorstellung kann das wohl nur die über jeden Zweifel erhabene Fifa. "Wer kümmert sich um die Arbeiter? Wer? Die Fifa macht das, der Fußball macht das, die WM macht das - und, um gerecht zu sein, Katar macht es auch", sagte Infantino, "wie viele der westlichen Unternehmen, die hier Milliarden von Katar erhalten - wie viele von ihnen haben über die Rechte von Arbeitsmigranten gesprochen? Keiner!"
Bizarrer Auftritt
Dass der Fifa-Boss valide Punkte angesprochen hat, steht außer Frage, leider hat er das mit seinem bizarren Auftritt ad absurdum geführt. "Indem er berechtigte Kritik an den Menschenrechten beiseiteschiebt, ignoriert Infantino den enormen Preis, den Gastarbeiter zahlen, um sein Vorzeigeturnier zu ermöglichen - und auch die Verantwortung der Fifa dafür", sagte Steve Cockburn, Leiter der Abteilung für wirtschaftliche und soziale Gerechtigkeit von Amnesty International: "Die Forderungen nach Gleichheit, Würde und Entschädigung können nicht als Kulturkampf behandelt werden - es handelt sich um universelle Menschenrechte, zu deren Einhaltung sich die Fifa in ihren eigenen Statuten verpflichtet hat."
Wut bei Menschenrechtlern
Mustafa Qadri, Chef der Menschenrechtsorganisation "Equidem", konnte seine Wut, nicht verbergen: "Infantinos Rede ist eine Beleidigung gegenüber Tausenden Arbeitern und Arbeiterinnen, die diese WM überhaupt möglich gemacht haben und teilweise mit ihrem Tod bezahlen mussten."
Die Sky-Sportreporterin Melissa Reddy sprach von "irreführenden, respektlosen, beleidigenden" Aussagen. "Ich denke, das wird die WM, die wirklich unterstreicht, wie schmutzig das Spiel ist." Sie sprach von einer "Sternstunde der Realitätsverweigerung".
"Ich fand es beschämend"
Auch die Fußball-Welt war über Infantinos Tirade erschüttert. "Als ich den Fifa-Präsidenten gesehen habe, war ich schockiert. Ich habe mich in dem Moment auch geschämt, ein Teil dieser Veranstaltung zu sein", sagte Dänemarks Sportdirektor Peter Möller: "Ich fand es beschämend. Das ist der Mann, der das Bild des Fußballs prägt und der eigentlich zeigen könnte, was Fußball bewirken kann."
Was bleibt, ist das Bild von "Präsident peinlich", der sich im Erklärungsnotstand befand, und alles noch viel schlimmer gemacht hat. Damit steht er schon fest - der erste Verlierer dieser WM.