Frisch, mutig klar: "Nagelsmann hat das Amt des Bundestrainers ein Stück weit neu definiert"

Auch 16 Stunden nach Abpfiff ist der Bundestrainer noch nah am Wasser gebaut. Das bittere Aus seiner DFB-Elf nimmt Nagelsmann zum Anlass für einen ernsten Appell weit über den Fußball hinaus.
Patrick Strasser |
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Pressekonferenz nach dem Ausscheiden der deutschen Nationalmannschaft mit Bundestrainer Julian Nagelsmann, DFB-Präsident Bernd Neuendorf und DFB-Sportdirektor Rudi Völler (v.l.).
Pressekonferenz nach dem Ausscheiden der deutschen Nationalmannschaft mit Bundestrainer Julian Nagelsmann, DFB-Präsident Bernd Neuendorf und DFB-Sportdirektor Rudi Völler (v.l.). © Christian Charisius (dpa)

München – Es ist das Bild, das bleibt, das sich eingeprägt. Bekanntlich zählt ja der letzte Eindruck. Und das ist der von einem Bundestrainer der deutschen Nationalmannschaft, der mit sich und seinen Tränen kämpft, der um Fassung und die entsprechenden Worte ringt. Sogar noch etwas mehr als 16 Stunden nach dem unglücklichen, dramatischen Ausscheiden bei der EM durch das 1:2 nach Verlängerung im Viertelfinale gegen Spanien.

„Es gab keinen Spieler, der bei der Verabschiedung keine Tränen in den Augen hatte“

Hat man einen Bundestrainer schon einmal derart emotional, derart offen erlebt? Bereits während der Fernseh-Interviews am Freitagabend im Stuttgarter Stadion musste Julian Nagelsmann schluchzen, seine Stimme stockte, er hatte feuchte Augen. Vor allem als es um „seine Jungs“ ging wie er immer sagt. Um das Miteinander, um die Zusammenarbeit. Seine Hingabe, seine Leidenschaft für den Job übertrug der 36-Jährige auf seine Mannschaft. Diese wiederum, seine Jungs, zeigten am Samstagvormittag nach einem letzten Frühstück und einer letzten Ansprache ihrerseits Emotionen und verabschiedeten sich, von Gefühlen übermannt vom Trainerteam und dem Staff.

In Kleinbussen verließen die Spieler das DFB-Camp in Herzogenaurach. Scheiden tut weh, sich dabei in die Augen schauen noch mehr. Wehmut, Abschiedsschmerz, Niederlagenverarbeitung. „Es gab keinen Spieler, der bei der Verabschiedung keine Tränen in den Augen hatte“, sagte Nagelsmann – und musste weinen.

Nagelsmanns frischer Wind aus Kalkül und Gefühl, klarer Analyse und mutiger Offenheit

So etwas hat man hierzulande noch nie gesehen. Einen Bundestrainer, dem aufgrund der Emotionen das Blut schneller durch die Adern schoss und seinen Wangen einen hochroten Teint verlieh. Womit der verletzliche „Bundesträner“ die Gefühle der Fans spiegelte, der kollektiven Trauer ein persönliches Gesicht gab. Geteiltes Leid im ganzen Land.

Das Erreichen des EM-Viertelfinales UND das Scheitern gegen die Spanier hat aus deutscher Sicht einen großen Gewinner: diesen Julian Nagelsmann. Der frischen Wind reingebracht hat beim DFB und in den Kader der Nationalmannschaft. Der so frei war. In vielen Belangen. Der authentisch war, sich nicht verstellte. Der sein Ding machte, der sein Ding durchzog.

Auch das Ritual der Belohnungsbussis durch seine Freundin Lena, die bei jedem Spiel im Trikot und mit den Deutschland-Farben auf der Tribüne mitfieberte. Kalkül und Gefühl. Klare Analyse, mutige Offenheit.

Nagelsmanns Erfolg zeigt sich an den weichen Faktoren

„Julian Nagelsmann hat das Amt des Bundestrainers für mich ein Stück weit neu definiert in den vergangenen Wochen“, sagte DFB-Präsident Bernd Neuendorf am Samstag voller Bewunderung, „er hat eine unglaubliche Energie ausgestrahlt, einen unglaublichen Spirit.“

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Manche seiner Vorgänger hatten mehr Erfolg als Nagelsmann, der jüngste Trainer der EM-Geschichte, der mit einem Erfahrungsschatz von lediglich acht Länderspielen in dieses Turnier ging. Doch sein Wirken ist nicht am Einzug unter die letzten Acht, rein faktisch der größte Erfolg der Nationalelf seit der EM 2016, zu messen. Sondern an den weichen Faktoren. Mit Blick auf die WM 2026 in Nordamerika hat dieses DFB-Team neue Lust geweckt und den Nährboden für künftige Erfolge geschaffen. Die Zweifel sind weg, Stolz und Hoffnung sind zurück.

Nagelsmann setzt an zu einer Ruckrede an die Nation

Noch unter Strom und voller Adrenalin fasste sich Nagelsmann auf der Pressekonferenz ein Herz und nutzte die Gelegenheit, ein paar Botschaften loszuwerden. „Wir leben in einem Land, das viel zu viel in Tristesse verfällt. Es gibt mir hierzulande zu viel Schwarzmalerei“, holte Nagelsmann aus und konstatierte: „Wir haben es gemeinschaftlich geschafft, dieses Land ein bisschen aufzuwecken und schöne Momente zu bescheren. Ich hoffe, dass diese Symbiose zwischen Fußballfans und einer Fußballmannschaft auch in der Gesellschaft stattfindet, dass wir begreifen, dass wir als Gemeinschaft mehr bewegen können.“

Der Appell, ganz Staatsmann im Sportshirt, verpackt in einer Ruckrede an die (Fußball-) Nation: „Gemeinsam ist man stärker. Mit Fans stärker als ohne. Mit seinem Nachbarn stärker als ohne.“ Die Nationalelf als Vorreiter, die Nationalspieler als Vorbilder? Lang, verdammt lang her.

„So ein goldener Pokal ist auch ganz hübsch in der Sammlung“

Die Einmaligkeit der Heim-EM in seiner Karriere ist vorbei. „Das tut weh“, sagte Nagelsmann, der „sehr erfüllt“ sei von seinem Job und fügte hinzu: „Dass man jetzt zwei Jahre warten muss bis man Weltmeister wird, tut auch weh!“

Am Samstag meinte er schelmisch: „So ein goldener Pokal ist auch ganz hübsch in der Sammlung.“ Wenn Träume platzen, braucht man ganz schnell neue Ziele.

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