Ein Schicksalsschlag prägte sein Leben: Woher Julian Nagelsmann seine Mut-Mentalität hat
München - Ist Julian Nagelsmann ein Getriebener? Ein von Ehrgeiz zerfressener Macher, der ständig macht und tut und grübelt und tüftelt? Ein Rastloser?
Ja, auch. Aber dieses Bild des Bundestrainers, des wahren Bundestrainers im Vergleich zu den Abermillionen, die sich in den kommenden EM-Wochen zu Möchte-Gern-Bundestrainern aufspielen, ist nur die halbe Wahrheit. Wenn überhaupt. Dem 36-Jährigen all dies zu attestieren, weil er in seinem Berufsleben in so jungen Jahren schon so viel erreicht hat, wird ihm nicht gerecht. Kommt da Neid durch, dieser oft so typisch deutsche Neid, wenn jemand extrovertiert ist, aber nicht fällt, sondern emporsteigt? Stufe für Stufe, Leiter für Leiter. Weil er gewinnt und gewinnt. An Profil, Geld, Ruhm. Doch all das hat seinen Charakter nicht verändert, sagen Freunde.
Als Trainertalent wurde Nagelsmann vom Hof gejagt
Als "Trainertalent" wurde er beim FC Bayern verspottet und bei der erstbesten Gelegenheit im März 2023 nach nur 16 Monaten im Amt vom Hof Säbener Straße gejagt. Erstmals seit der Entlassung bei seinem Herzensverein, in dessen Bettwäsche er als Kind schlief, wird er am Freitagabend wieder an der Seitenlinie in der Münchner Arena stehen. Wenn etwas noch Größeres als ein Champions-League-Spiel mit dem FC Bayern ansteht: das Eröffnungsspiel der Heim-EM. Eine einmalige Gelegenheit.
Einzigartig soll das ganze Turnier werden. Den Mutigen gehört die Welt. Das ist der Schlüssel zu seiner Psyche: Mut. "Als Trainer war ich nie angstgetrieben. Angst sollte man haben, wenn es um Existenzielles geht", betont Nagelsmann. Im wahren Leben, nicht auf dem Platz. Früher galt er als Daten-Nerd, traf Entscheidungen aufgrund von Statistiken zu Spielern, Gegner, anstehenden Partien. Nagelsmann hat seine empathische Seite auch im Job entdeckt, führt mehr Gespräche mit seinen Spielern als früher. Zu engstirnig, teilweise beratungsresistent sei er bei seinen drei Bundesliga-Stationen in Hoffenheim, bei RB Leipzig und beim FC Bayern gewesen. Nun betont er, man müsse "den Mut haben, auf sein Herz und seinen Bauch zu hören".
Ein Schicksalsschlag, der Nagelsmanns Leben prägte
Eine Erkenntnis, die gewachsen ist. Die aber auch von einem Schicksalsschlag herrührt. Im November 2008, Nagelsmann war 20 Jahre alt und absolvierte einen Trainerlehrgang in Oberhaching, nahm sich sein Vater Erwin Karl das Leben. Sein geliebter Papa, ein Schock. Nichts war mehr wie früher. Die Familie hielt zusammen. Julian, der jüngste der drei Kinder, sein Bruder André ist elf, seine Schwester Vanessa neun Jahre älter, übernahm Verantwortung. Musste er.
Der Vater war für den Geheimdienst tätig
Sein Vater, der "ein sehr lustiger Typ" gewesen sei, zu dem er "ein ausgezeichnetes Verhältnis" gehabt habe, war für den Bundesnachrichtendienst tätig gewesen. Dies habe er selbst erst mit "15 oder 16 Jahren" erfahren wie er in einem "Spiegel"-Interview erzählte. "Er durfte über seinen Job nicht sprechen und musste im Beruf immer wieder Entscheidungen treffen in dem Bewusstsein, dass der ganze Plan auch in die Hose gehen konnte." Diesen Mut, im Fußball Entscheidungen zu treffen, hat sich Nagelsmann auf die Fahne geschrieben. Als immaterielles, umso wertvolleres Erbstück seines Vaters.
Völler, "eine Art Papa-Figur" für Nagelsmann
Nach dem Suizid ging es um die wirklich wichtigen Fragen des Lebens. "Wenn man dann entscheiden muss, ob man das Elternhaus verkauft oder nicht, damit es der Mama wieder besser geht, dann hat das eine andere Dimension als die Frage, ob nun der eine oder der andere Stürmer von Beginn an spielt." Diese Gedanken trägt er stets in sich. Und lässt ihn den ganzen Druck des Bundestrainer-Jobs leichter ertragen.
Nagelsmann hat sich Tipps geholt von den alten Hasen in diesem Job, von Jürgen Klinsmann, Joachim Löw und Vorgänger Hansi Flick - von Rudi Völler, dem DFB-Sportdirektor, den er als "eine Art Papa-Figur" bezeichnet, sowieso. "Wir wollen uns nicht lähmen lassen vom Druck", sagt Nagelsmann. "Wir wollen einen Fußball zeigen, der Spaß macht, der entertainen soll. Denn so ein Ticket fürs Stadion kostet viel Geld. Wenn wir das mit einem guten Ergebnis paaren, wäre das sehr wertvoll. Wir wollen die Fans mit gutem Fußball füttern." Hoffentlich schmeckt bereits der Appetizer gegen die Schotten, der Gruß aus Nagelsmanns Küche.