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AZ-Serie zur WM 1990: Träumender statt wilder Kaiser

Vier Mal hat die deutsche Mannschaft bisher bei einer Fußball-WM am Ende triumphieren können. In dieser neuen Serie wirft die AZ einen Blick auf diese unvergessenen Momente. Dieses Mal: die WM 1990.
Florian Kinast |
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Eine weltmeisterliche Jubel-Traube: Jürgen Klinsmann, Pierre Littbarski, Stefan Reuter und Rudi Völler feiern Andreas Brehme nach dessen 1:0-Siegtreffer per Elfer im WM-Finale 1990 gegen Argentinien.
Eine weltmeisterliche Jubel-Traube: Jürgen Klinsmann, Pierre Littbarski, Stefan Reuter und Rudi Völler feiern Andreas Brehme nach dessen 1:0-Siegtreffer per Elfer im WM-Finale 1990 gegen Argentinien. © imago images/WEREK

Am Sonntag ist es soweit, dann wird es im Wüstenstaat Katar erstmals in der Geschichte eine Winter-Fußball-WM geben. Zeit für einen Blick zurück auf die deutsche WM-Herrlichkeit mit seinen bisher vier WM-Titeln.

AZ-Reporter Florian Kinast, der gerade das Buch "Die Könige der Welt - die Geschichte der Fußballweltmeisterschaften von 1930 bis heute" veröffentlicht hat, nimmt sich dieser historischen Momente in der neuen AZ-Serie an. Dieses Mal der dritte Teil: Die magische Nacht von Rom bei der WM 1990.

Der Mond war kugelrund, hoch oben im Himmel über Rom. Das Kamerabild hatte die Kugel hundertfach herangezoomt, so groß, so schön, man sah jeden Krater, jedes Staubloch, davor den Schattenriss eines kreuzenden Flugzeugs.

Der Weltmeistermacher: Bundestrainer Franz Beckenbauer.
Der Weltmeistermacher: Bundestrainer Franz Beckenbauer. © imago images/Laci Perenyi

Alle feierten während Beckenbauer über den Rasen schlenderte

Der Mond war so nah, man hätte vermutlich daheim im Wohnzimmer den alten Röhrenfernseher nur einfach umdrehen müssen, um die Rückseite zu sehen. The Dark Side of the Moon.

Dann schwenkte die Regie um. Und zeigte ein anderes Gestirn. Franz Beckenbauer, der über den Rasen des römischen Olympiastadions schlenderte. Um ihn herum lärmender Wahnsinn, singende Spieler auf der Ehrenrunde, Rudi Völler tanzend mit dem Pokal in der Hand. Alles lag sich in den Armen, während Beckenbauer nur in seiner körperlichen Hülle anwesend schien, ansonsten in seinem metaphysischen Zustand weit entrückt war, draußen noch weit hinterm Mond.

Irgendwo im zentralen Mittelfeld zwischen Saturn und Uranus. 2018 sagte Beckenbauer, in diesem Moment sei das ganze Leben an ihm vorbeigeflogen, er habe an seine Familie gedacht, an seine Mutter, an den WM-Titel 1974. Am ehrlichsten war vielleicht sein Bekenntnis nur wenige Tage nach der Nacht von Rom: "Ich weiß nur, dass ich auf dem Platz war, als würde mich jemand ziehen oder schieben. Was ich gedacht habe, weiß ich nicht mehr. Wahrscheinlich habe ich einfach nur geträumt."

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Beckenbauer vor dem Aus? Rufe wurden nach Heim-EM 1988 lauter

Nach der WM 1986 hatte sich Franz Beckenbauer nach erbetener Bedenkzeit doch zum Weitermachen entschieden, doch die Rufe nach einem neuen Bundestrainer wurden gerade nach der Heim-EM 1988 immer lauter. Der "Spiegel" fällte nach dem Aus im Halbfinale gegen Holland ein sehr vernichtendes Urteil über den Franz und fragte, "warum er nicht endlich den Kram hinschmeißt und wieder zum Golfschläger greift."

Am besten im Kreis seiner, wie zu lesen war, "Schischi-Freunde, die ihm nach dem Ausscheiden mit schwer parfümierter Süßlichkeit im Foyer des feinen Hotels Bachmair am Tegernsee mit Küsschen kondolierten."

Im Gegensatz zu Mexiko 1986, wo er als tobender Poltergeist alles niedergemäht hatte, was ihm in den Sinn kam, ob Medien ob Mannschaft, ob große Bundesliga-Trainer oder kleine Mexikaner, erlebte die Welt nun einen gleichmütig geläuterten Teamchef, eine Art buddhistischen Zen-Mönch des Fußballs.

Es war die Zeit, in der Beckenbauer seinen griesgrämigen Dauergrant abgelegt und die alte Lässigkeit als Spieler wiederentdeckt hatte, getreu seiner Ansage vor Anpfiff in der Kabine: "Geht's raus und spuits Fuasboi."

Lass sie einfach machen. Wird scho.

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Italien für viele DFB-Stars 1990 zum Zuhause geworden

Italien war damals für viele Stars des Teams zum Zuhause geworden. Matthäus, Brehme, Klinsmann kickten bei Inter, ihre Häuser lagen in unmittelbarer Nachbarschaft des Team-Quartiers, dem mittelalterlichen Castello di Casiglio in Erba am Comer See. Rudi Völler und Thomas Berthold spielten beim AS Rom. Thomas Häßler hatte bereits bei Juventus unterschrieben, Karl-Heinz Riedle bei Lazio Rom.

Wenn nach dem Vormittagstraining keine weitere Einheit mehr anstand, durften die Spieler ausschwärmen. Jürgen Klinsmann etwa schaute immer wieder in seinem Domizil in Cernobbio vorbei und besuchte seine Stuttgarter Kumpels, die sich dort für die Zeit der WM eingenistet hatten.

Andere Legionäre machten in diesen Tagen auf Touri-Guide und zeigten den Kollegen die schönen Ecken am Lago di Como. Man ging zum Wasserskifahren, auf Bootstour und natürlich in die angesagtesten Edelrestaurants mit dem besten Trüffel und dem teuersten Rotwein, etwa im Gatto Nero, nach vielen Serpentinen hoch über dem Westufer des Lago di Como.

"Ihr Blinden, Ihr Topfenkicker, Ihr seids die größten Deppen"

Nur im Viertelfinale war dann Schluss mit lustig. Weil Beckenbauer wieder sein Temperament von 1986 einholte und er wieder zum Franz von Mexiko wurde. Gerade Jürgen Klinsmann, der mit einer seiner bekannten Flugshows immerhin den entscheidenden Elfmeter herausgeholt hatte, zog des Kaisers Zorn auf sich.

"Du bist der Klinsmann, nicht der Pelé", brüllte Beckenbauer aufs Spielfeld und warnte die übrigen Mitspieler. "Spielts den blinden Klinsmann ned an, der is heut gegen uns." Einmal ging er zu einem entgeisterten italienischen Balljungen und fragte ihn: "Wuist spuin? Ich wechsel Dich ein."

In der Kabine entlud sich die Wut auf die Spieler. "Ihr Blinden, Ihr Topfenkicker, Ihr seids die größten Deppen." Wie Zeitzeuge Matthäus einmal bestätigte, trat Beckenbauer dann noch einen Eiskübel in hohem Bogen durch die Kabine, viele Spieler flüchteten laut Überlieferung ins heiße Ermüdungsbecken, im Wissen, dass es ihrem Chef dort immer zu warm war.

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DFB-Kicker hätten lieber gegen Kamerun gespielt

Abends im Quartier war die Laune wieder fröhlich. Im Castello von Erba schaute die Mannschaft das nächste, mitreißende Viertelfinale an, in dem England und Kamerun den Halbfinalgegner ausspielten.

Als die Lions indomptables, die unzähmbaren Löwen, nach einem Rückstand durch Tore von Kundé und Ekéké das Spiel plötzlich für Kamerun drehten und 2:1 führten, jubelten die DFB-Kicker - bis Franz Beckenbauer den nächsten Rüffel des Tages erteilte und laut in die Runde rief: "Was freuts euch so? Wollt Ihr wirklich gegen Kamerun spielen?"

Dann wurde es plötzlich still. England gewann in der Verlängerung 3:2.

Ministerpräsident Streibl begrüßte die Weltmeister am Flughafen Riem

Bei der Rückkehr der Bayern-Spieler nach dem Finale am Flughafen Riem machte Ministerpräsident Max Streibl den Grüßgott-August. Er drückte den Weltmeistern Klaus Augenthaler, Olaf Thon, Stefan Reuter, Jürgen Kohler, Hans Pflügler, Raimond Aumann einen Bayerischen Löwen aus Hutschenreuther Porzellan in die Hand. Danach ging es zum "Käfer", auf der Fahrt im Mannschaftsbus reichte Fahrer Dieter Fritz dem Sextett ein Sixpack kühles Weißbier: "Sekt habt's gnua ghabt."

Franz Beckenbauer aber war da gar nicht mehr dabei. Er war schon wieder auf dem Weg nach Kitzbühel und vielleicht dachte er noch einmal nach, ob er seinem Nachfolger Berti Vogts wirklich einen Gefallen tat, als er noch im Olympiastadion von Rom mit seiner hanebüchenen Prognose ums Eck kam und sagte: "Wir sind die Nummer 1 in der Welt, jetzt kommen die Spieler aus Ostdeutschland noch dazu, ich glaube, dass die deutsche Mannschaft über Jahre hinaus nicht zu besiegen sein wird. Das tut mir leid für den Rest der Welt." Vielleicht dachte Beckenbauer aber auf der Fahrt nach Kitzbühel einfach nur ans Golfspielen.


Das Buch "Könige der Welt" von AZ-Reporter Florian Kinast ist im dtv-Verlag erschienen, 489 Seiten, 16 Euro

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